Frisches und flexibles Gespenst
Freiburg, 19.04.2018
„Ein lebendiger Geist“, sagt Dr. Christian Dries, sei der deutsche Philosoph und Ökonom Karl Marx gewesen, und zwar im doppelten Sinne: „Er war nicht nur von seinem Denken her ungeheuer frisch und flexibel. Er ist auch eine Art Gespenst, das uns heute noch zu den drängenden Fragen der Gegenwart heimsucht.“ Fragen, die der Soziologe Dries und der Philosoph Dr. Sebastian Schwenzfeuer gerne in der Ringvorlesung diskutieren möchten, die sie dem großen Denker anlässlich seines 200. Geburtstags am 5. Mai gewidmet haben. Wie aber wirkt das gedankliche Erbe Marx’ heute noch fort? Claudia Füßler bietet vier Einblicke.
Sozialistisches Erbe im Stadtbild: Die Karl-Marx-Allee wurde in den 1950er Jahren in Berlin Friedrichshain und Mitte erbaut. Foto: kevers/Fotolia
Theorie und Praxis sind untrennbar
Praxis ist die Umsetzung von Theorie, oder? So einfach macht es sich Karl Marx nicht. „Für ihn ist Theorie die Ermöglichung von Praxis als politische Analyse. Das ist etwas anderes als ein einfaches Umsetzen“, sagt Schwenzfeuer. Marx habe begriffen, dass Theorie und Praxis nicht zwei verschiedene Dinge sind, sondern die Theorie Teil einer gesellschaftlichen Praxis sei. Seine Einsicht: Wenn man Theorie betreibt, dann nur, wenn man den gesellschaftlichen Standort mitdenkt. „Wo stehe ich, und wie bin ich dahingekommen, wie beeinflusst das mein gesamtes Handeln? Das sind weitreichende Überlegungen“, erläutert Dries. Die Theoriebildung ist also jeweils von den gesellschaftlichen Verhältnissen abhängig. In die Zeit Marx’ fällt die Entdeckung der Gesellschaft als wissenschaftlich beobachtbarer Gegenstand – jedes Tier, jede Sache, jeder Mensch ist Teil einer Gesellschaft. Diese Einsicht sei auch heute unverzichtbar, „auch wenn es natürlich Kritiker dieser Idee gibt“, sagt Schwenzfeuer. Er findet: Wer heute bestimmte Aussagen über die Menschen oder die Gesellschaft machen will, darf die Theorie von der Praxis nicht trennen. Ganz so, wie Marx es tut.
Geschichte und Kontingenz
„Diese Politik ist einfach alternativlos“ ist ein Satz, den man heute oft hört. Und gegen den Karl Marx angehen würde, ist sich Dries sicher. Marx war der festen Überzeugung, dass Menschen zwar in Verhältnisse hineingeboren werden, die sie nicht gemacht haben und für die sie entsprechend nichts können. Doch im Gegensatz dazu machen sie ihre Geschichte selbst. Marx’ Kernkritik: Die Leute gehen davon aus, dass Waren und Geld Sachverhältnisse sind, statt dessen seien sie Menschenverhältnisse, sprich: von Menschen gemacht. „Und all das kann man theoretisch ändern“, präzisiert Dries, „Geschichte ist Marx zufolge also kontingent und Menschenwerk.“ Etablierte Strukturen haben damals wie heute schnell den Eindruck vermittelt, die Dinge seien unveränderbar. Doch darauf zielte Marx ab: Man kann das anders machen. Allerdings nicht irgendwie. „Zu Marx’ Zeiten gab es verschiedene Utopien“, sagt Schwenzfeuer. „Aber für ihn war klar, dass es den Kommunismus und Sozialismus nur geben kann, indem man durch den Kapitalismus hindurchgeht.“
Ein lebendiger Geist: Karl Marx‘ Ideen sind im 21. Jahrhundert präsenter denn je. Foto: John Jabez Edwin Mayal in 1875. Quelle: International Institute of Social History via Wikimedia Commons, public domain
Politische Ökonomie
Karl Marx hat bereits zu seinen Lebzeiten den Kapitalismus als globale Dynamik, als Weltsystem gesehen. „Das war revolutionär“, betont Christian Dries. Marx erkannte, dass in diesem System der Wert zum eigentlichen, quasi automatischen Subjekt der historischen Entwicklung wird – ein Wert, der sich schrankenlos selbst verwertet. Dieses globale Moment der kapitalistischen Produktionsweise ist eines, das sich erst jetzt voll entfaltet, erklärt Schwenzfeuer, „im Grunde erst mit dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989/90.“ Marx habe zwar bereits früh erkannt, dass sich dieses Moment eines Tages durchsetzen und alles andere zerstören würde, doch erst aus heutiger Sicht sei erkennbar, dass er damals viel mehr die heutige Realität beschrieben habe als die des 20. Jahrhunderts.
Entfremdung
Eine der Thesen des frühen Marx lautet: Der Mensch ist ein tätiges Wesen. Er muss arbeiten, um seine Grundbedürfnisse zu befriedigen. Marx zufolge unterscheidet den Menschen vom Tier, dass er seine Lebensmittel produziert. In der kapitalistischen Produktionsweise passiert etwas, das er Entfremdung nennt. Marx erkennt sie an der Lage der Arbeiter Mitte des 19. Jahrhunderts: „Er fragt sich, was für eine komische Form von Freiheit der Kapitalismus erzeugt, wenn ich nichts mehr habe als meine Arbeitskraft, die dann zwangsweise verkauft werden muss, um überleben zu können“, erklärt Dries. In der heutigen Debatte um ein Grundeinkommen, wirft Schwenzfeuer ein, hätte Marx sich vermutlich nicht auf die Seite der Befürworterinnen und Befürworter geschlagen – aber in diesem Kontext bemerkt man die Aktualität von Marx’ Analyse.
Ringvorlesung „Karl Marx – ein toter Hund?“
Gemeinsam mit dem Colloquium politicum nehmen das Institut für Soziologie und das Philosophische Seminar der Universität Freiburg das bevorstehende Jubiläum zum Anlass, das geistige Erbe Karl Marx‘ in einer elfteiligen Ringvorlesung mit Vortragenden aus unterschiedlichen Disziplinen auf seine Aktualität hin zu befragen. Zum Auftakt der Vorlesung findet am 25. April 2018 ab 20 Uhr im Hörsaal 1010, Kollegiengebäude I eine Podiumsdiskussion mit Expertinnen und Experten statt. Der Eintritt ist kostenlos, eine Anmeldung ist nicht erforderlich.
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