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Familiensaga in einer Plastiktüte

Freiburger Studierende rekonstruieren die Geschichte der jüdischen Familie Ephraim

Freiburg, 12.03.2019

Wo „Einführung in die Textarbeit“ draufsteht, muss mitnichten trockener Lernstoff drin sein. Die Judaisten Raban Kluger und Jan Wacker verwandeln eine Pflichtübung zu einem Jane-Austen-artigen Vergnügen: Mit Gefühl und Verstand rekonstruieren sie gemeinsam mit Studierenden die Geschichte der jüdischen Familie Ephraim – mehr als 300 Briefe, Postkarten und andere Schriftstücke dienen der Gruppe als Quelle. Sie wurden vor Jahrzehnten in einer Plastiktüte im Jüdischen Museum der Schweiz abgegeben.


Mehr als 300 Briefe, Postkarten und andere Schriftstücke dienen den Studierenden als Quelle für die Spurensuche nach der Familie Ephraim. Foto: Jan Wacker

„Die Idee wurde im Sommer 2016 auf der Tagung der Judaisten in München geboren“, sagt Jan Wacker. „Dort erzählte ein Professor, wie er gezielt in alten Synagogen nach Manuskripten sucht und nicht selten buchstäblich zwischen den Fugen fündig wird.“ Sofort fassten Wacker und Raban Kluger den Entschluss, sich in den Synagogen im Elsass auf die Suche nach Handschriften zu machen. Anhand der Manuskripte wollten sie den Studierenden das nötige Handwerkszeug wie Quellentheorie, Paläografie, Recherche und Umgang mit Umschriften und dem hebräischen Alphabet in Textverarbeitungsprogrammen beibringen.

„Aber die Judaistik in Freiburg ist klein und verfügt nur über sehr beschränkte finanzielle Mittel“, fügt Kluger hinzu. „Zu klein, um aufwendige Exkursionen ins Elsass zu stemmen.“ Mit etwa 40 Studierenden ist die Judaistik eins der kleinsten Fächer an der Universität Freiburg. Für Kluger und Wacker war das aber kein Grund zu verzagen. Sie erinnerten sich an das Jüdische Museum der Schweiz in Basel (JMS). Das ist ebenfalls nicht groß und mit überschaubaren finanziellen, räumlichen und personellen Ressourcen ausgestattet. Aus diesen geringen Kapazitäten ergab sich ein Gewinn für beide Seiten: Das Museum verfügt über hochkarätige Exponate und noch unerschlossene Dokumente, die es gerne aufbereiten würde – und in Freiburg fanden sich Studierende, die diese Schätze heben wollten.

Romanfiguren aus der Realität

Die Freiburgerinnen und Freiburger stießen auf ein noch unerschlossenes Konvolut von etwa 300 Objekten – darunter handschriftliche Briefe, Postkarten, Zeichnungen und zwei Verlobungsbücher aus dem erweiterten Familienkreis der Familie Ephraim. Die Manuskripte umfassen einen Zeitraum von etwa 100 Jahren, von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Und dieses Konvolut hat es in sich. Schon der Anfang der Geschichte trägt romanhafte Züge.

„Da kommt ein Mann nach Basel ins Jüdische Museum, der sich als Adoptivsohn eines Herrn Ephraim herausstellt, und gibt eine mit Familienbriefen prall gefüllte Plastiktüte ab. Er sagt, dass er damit nichts mehr anfangen könne“, berichtet die Studentin Carolin Mücke. Eigentlich hätte sie das Grundlagenseminar „Einführung in die Textarbeit“ nur einmal belegen müssen. Aber die Story der Ephraims hatte sie so gepackt, dass sie die Einführung auch im folgenden Semester wieder besuchte und auch im nächsten wieder dabei sein wird.


Jan Wacker (links) und Raban Kluger hatten die Idee zum Projekt – Carolin Mücke arbeitet seit einem Jahr daran mit und wird auch im nächsten Semester wieder dabei sein. Foto: Patrick Seeger

Er ist liebeskrank, sie zeigt sich verhalten

Noch mindestens zwei weitere Jahre wird es dauern, bis die Studierenden sämtliche Dokumente transkribiert und die Familiengeschichte von jenem Adoptivsohn mit der Plastiktüte bis zu den Vorfahren seines Stiefvaters Mitte des 19. Jahrhunderts aufgeschlüsselt haben werden, schätzt Kluger. Und bis dahin fiebert nicht nur Mücke mit. „Das macht süchtig wie Fernsehserien“, schwärmt sie. „Wir schicken uns gegenseitig Fotos von Textschnipseln zu und sind richtig frustriert, wenn die Schrift mal völlig unleserlich ist.“

Die Story birgt tatsächlich viel Potenzial. Ein Hauptstück der Sammlung, das die Gruppe im vergangenen Sommersemester bearbeitete, bilden die Liebesbriefe zwischen Isaak Ephraim und Lina Michaelis aus dem Jahr 1855. „Mein liebes gutes Lienchen!“, schreibt Isaak. „Was ich Ihnen eigentlich sagen soll, weiß ich wirklich nicht, mein Herz sehnt sich so sehr danach, Sie nur einmal wiederzusehen, bei jedem Gedanken, bei allen meinen Handlungen stehen Sie vor meinem geistigen Auge.“ Lina entgegnet ihrem Verehrer: „Mein Freund! Daß ich Sie hochschätze und ehre versteht sich von selbst und muß sich von selbst verstehen, da die Basis der Freundschaft nur wahrhaft gefühlte Hochachtung ist und so erlauben Sie mir gewiß ferner, Sie mein Freund anzureden.“

„Er ist Anfang 40, verhält sich aber wie ein liebeskranker 16-Jähriger und wird teilweise richtig unangenehm. Sie ist verhaltener, antwortet ihm nicht häufig genug“, skizziert Wacker die beiden Figuren. Isaak beschwert sich bei Lina, wenn sie ihm nicht schnell genug zurückschreibt und macht sich Vermerke: wann welchen Brief erhalten, wann welchen beantwortet. „Ein richtiger Technokrat und Kontrollfreak“, sagt Wacker Auch der Rest der Familie hat es in sich. Linas Mutter ist eine Glucke, der Vater ein Hypochonder, und der spätere gemeinsame Sohn von Lina und Isaak – ja, sie kriegen sich – wirft das Geld zum Fenster raus.

Fortsetzung folgt

Die Korrespondenz birgt nicht nur eine Liebesgeschichte, sondern erzählt auch viel über das jüdische Leben zu einer Zeit, in der die rechtliche Gleichstellung von Juden wichtige Fragen aufwarf: Sollten sie ihre Milieus verlassen und sich assimilieren? Auf welche Weise konnten sie das traditionelle Leben weiterführen? An Berühmtheiten mangelt es in der Saga auch nicht: Die Familie Tietz heiratet in die Familie Ephraim ein – und somit auch Leonhard und Oscar Tietz, die Gründer von Hertie und Kaufhof. Es geht um Suizid, merkwürdige Entlassungen aus dem Militärdienst, Gerichtsprozesse, Überschwemmungen und Feuerschäden. „Das alles ist sehr zeitintensiv und im Hinblick auf die ECTS-Punktausbeute wenig ökonomisch“, beurteilt Kluger das Projekt, „aber wenn am Ende die Ergebnisse in einer Ausstellung oder Quellenedition präsentiert werden, wird bei den Studierenden hoffentlich das Gefühl überwiegen, dass sich der Aufwand gelohnt hat.“

Und was meinen die Studierenden? „Uns war gleich klar, dass wir uns mit etwas Einzigartigem beschäftigen. Wir dürfen Geschichte buchstäblich anfassen“, sagt Mücke. „Am Anfang hatten wir große Scheu; der Tisch war mit Seidenpapier ausgelegt, und wir trugen Handschuhe. Inzwischen sind wir häufig außerhalb der Seminarzeiten in Basel, bekommen dort unbegrenzt Zeit und Kaffee und wollen jetzt auch unbedingt wissen, wie es mit den Ephraims weitergeht.“ An der Geschichte hat sogar ein namhafter Verlag Interesse signalisiert. Und wie enden solche Storys in der Regel? Genau: Fortsetzung folgt.

Jürgen Reuß