Ethik in der Pharmazie
Freiburg, 15.06.2018
Seit zehn Jahren beschäftigen sich Freiburger Studierende der Pharmazie, Chemie und Theologie mit Fragen der Ethik in den Naturwissenschaften – freiwillig. Gerade in den Natur- und Biowissenschaften sei das höchst sinnvoll, sagt Prof. Dr. Michael Müller, der das interdisziplinäre Ethikseminar an der Universität Freiburg gegründet hat. Die Frage nach ethischem Handeln komme aber oft viel zu kurz und fehle immer noch in den meisten Studienordnungen naturwissenschaftlicher Fächer.
Abwechslung zum Labor: Im interdisziplinären Ethikseminar steht die Textarbeit im Vordergrund. Foto: Thomas Kunz
Der Text ist harter Stoff – nicht nur für die Studierenden der Pharmazeutischen Wissenschaften, die sich in ihren Kursen sonst mit Formeln befassen: Es ist Freitagnachmittag, 20 Studierende sitzen im Seminarraum an der Freiburger Albertstraße und diskutieren in Kleingruppen über Immanuel Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ aus dem Jahr 1785. Das Werk ist der Versuch, eine Moralphilosophie zu entwerfen: Welche Handlungen sind gut – und warum?
Mit Begriffen ringen
Um sich diesen Fragen und möglichen Antworten zu nähern, ringen die Studierenden mit Kants Begriffen: Es geht um Zweck und Mittel, um Pflicht, Neigung und den guten Willen. Auf den Tischen liegen kopierte Texte und Schreibblöcke, eine Studentin tippt auf dem Tablet mit. „Der hypothetische Imperativ ist viel praxisbezogener als der kategorische, oder?“, fragt sie ihre Kolleginnen und Kollegen. „Hat Kant hier eigentlich auch eine Wertung aufgestellt, oder geht‘s ihm erst mal nur um die Definition?“
Michael Müller ist Professor für Pharmazeutische und Medizinische Chemie an der Universität Freiburg. „Wenn man Krankheiten angehen möchte, gibt es viele Gründe, das zu tun“, sagt Müller. „Der derzeit entscheidende ist der monetäre.“ Für Studierende der Pharmazie sei es aber fundamental, sich auch mit anderen Gründen und Argumenten dafür oder dagegen zu beschäftigen: Sollen vor allem Medikamente entwickelt werden gegen Krankheiten, die besonders viele Menschen betreffen? Oder gegen Krankheiten, die besonders viel Lebenszeit nehmen? Oder die vor allem in der eigenen Gesellschaft vorkommen?
Pharmazie als Vorreiter
„Die Pharmazie bietet sich als Vorreiter an, um ethische Fragen in den Naturwissenschaften zu diskutieren“, sagt Müller, „denn Gesundheit verbinden wir viel schneller mit Werten als etwa physikalische Gesetze.“ Aber auch in anderen Bio- und Naturwissenschaften seien solche Reflexionen höchst sinnvoll, findet Müller – leider fehlten sie in der Regel immer noch in den Studienordnungen.
In Arbeitsgruppen sammeln die Studierenden ihre Erkenntnisse. Foto: Thomas Kunz
Aber was kann ein weit mehr als 200 Jahre alter Kant-Text Pharmaziestudierenden heute sagen? „Sie lernen durch ihn einen der zentralen Zugänge westeuropäischer Ethik kennen – und damit ein Werkzeug, das ihnen helfen kann, Entscheidungen zu treffen“, sagt Dr. Dominik Baltes, Theologe und im Hauptberuf Lehrer. Er leitet das Seminar zusammen mit der Biologin Dr. Stefanie Houwaart, die als Referentin beim „Haus der Krebs-Selbsthilfe ‒ Bundesverband e.V.“ arbeitet.
Sterbehilfe, Tierversuche, Gentherapie
„Wir sehen uns auch naturwissenschaftliche Fragen an und schauen, welche ethischen Werkzeuge wir anwenden können, um zu Einschätzungen zu gelangen“, sagt Houwaart. Nach dem Lektürekurs im Sommersemester folgt im Wintersemester die Auseinandersetzung mit praktischen Beispielen: Sterbehilfe, Präimplantationsdiagnostik (PID), klinische Studien, Tierversuche, Gentherapie.
Bei diesen Themen gehe es nicht um ein einfaches Ja oder Nein, sagt Houwaart, sondern um ethische Reflexionen der vielen Grautöne und auch der eigenen Sichtweisen: „Wir gehen offen rein und oft auch offen wieder raus – aber wir sind klüger als vorher.“ Eine solche Diskussion ohne eindeutige Antworten sei für Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler eine Erfahrung, die sie nicht so oft machten, sagt Baltes: „Im Labor will man ja Ergebnisse haben.“
Wann eine Handlung moralisch gut ist
Im Seminarraum sammeln die Arbeitsgruppen inzwischen ihre Erkenntnisse: Für Kant komme es bei einer Handlung auf den „guten Willen“ an, sagt eine Studentin. Baltes schlägt als modernere Übersetzung den Begriff „Intention“ vor; Kant meine damit das Gute im Menschen vor aller Erfahrung. Er fasst zusammen: „Egal, ob die Situation gut oder schlecht ausgeht – soweit der gute Wille dahinter steht, ist die Handlung auch moralisch gut.“ Das sei bei Kant ein zentraler Punkt. Andere ethische Konzepte zielten dagegen gerade nicht auf die Absicht, sondern auf die tatsächlichen Konsequenzen einer Handlung.
Initiator Michael Müller (links) vom Institut für Pharmazeutische Wissenschaften leitet das Seminar im Sommersemester 2018 gemeinsam mit dem Theologen Dominik Baltes und der Biologin Stefanie Houwaart. Foto: Thomas Kunz
In den Lektüresitzungen lesen die Studierenden neben Kants Texten unter anderem Ausschnitte aus der „Einführung in die Prinzipien der Moral und Gesetzgebung“ des englischen Philosophen und Sozialreformers Jeremy Bentham oder aus „Prinzip Nachhaltigkeit“ von Markus Vogt, einem zeitgenössischen Werk mit ethisch-theologischer Perspektive.
Neben Initiator Michael Müller waren an der Entstehung des Seminars auch der Professor für Öffentliches Recht Andreas Voßkuhle – er ist seit 2010 Präsident des Bundesverfassungsgerichts – und der Professor für Moraltheologie Eberhard Schockenhoff beteiligt. Zu den Lehrenden gehörten in den vergangenen zehn Jahren unter anderem Prof. Dr. Giovanni Maio vom Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Prof. Dr. Reiner Marquard, ehemals Rektor der Evangelischen Hochschule Freiburg, und Dr. Philippe Merz von der Thales Akademie. Im Wintersemester 2018/19 wird sich Prof. Dr. Andreas Barner, Vorsitzender des Freiburger Universitätsrats und bis 2016 Sprecher der Unternehmensleitung des Pharmaunternehmens Boehringer Ingelheim, an der Lehre beteiligen.
Neue Spezialisierung im Masterstudiengang
Und als Modul „Ethik und Nachhaltigkeit“ wird das Seminar künftig sogar zu einer Pflichtveranstaltung für manche Studierende: Es steht ab dem kommenden Wintersemester in der Prüfungsordnung für eine neue Spezialisierung im Masterstudiengang Pharmazeutische Wissenschaften. Sie heißt „Regulatory Affairs and Drug Development“ und befasst sich mit der Entwicklung von Medikamenten und deren Zulassung.
Weiterhin keine Punkte bekommen allerdings Studierende im Studiengang Staatsexamen Pharmazie. Warum sie trotzdem an einem Freitagnachmittag im Seminarraum mit Kant und Kollegen kämpfen? „Die Verknüpfung von Ethik und dem, was wir lernen, kommt sonst in unserem Studium nicht vor“, sagt Johanna Greinke. „Tierversuche zum Beispiel finde ich moralisch nicht gut, sehe aber auch, dass sie zum Teil notwendig sind. Jeder hat seine ethischen Vorstellungen, es ist gut, die zu reflektieren und Grundlagen für eine Diskussion zu bekommen.“ Und ihr Kommilitone Jakob Steff ergänzt: „Außerdem ist es einfach schön, mal für einen Moment aus dem naturwissenschaftlichen Denken rauszukommen und Texte zu lesen.“
Thomas Goebel