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Ein Spaziergang zum Anhören

„Schalom Freiburg“ erzählt von der Vergangenheit und Gegenwart jüdischen Lebens in der Stadt

Freiburg, 23.06.2020

Ein Spaziergang zum Anhören

Foto: Patrick Seeger

Dunkle, schwere Wolken ziehen über Freiburg weg und hinterlassen eine Spur feinen Nieselregens. Eine kleine Gruppe, bestehend aus zwei Studenten der Geschichte und einem Historiker der Universität Freiburg, lässt sich an diesem Morgen aber nicht davon abhalten, die Website „schalomfreiburg.de“ vorzustellen – und zwar nicht am PC, sondern mitten in der Stadt. Der Audiowalk, ein Hörspaziergang, ist das Ergebnis eines ungewöhnlichen Seminars aus dem Sommersemester 2019 zur jüdischen Geschichte und Gegenwart der Stadt Freiburg. Finanziert wurde das Projekt über den Jubiläumsfond der Stadt auf Antrag der Israelitischen Gemeinde.

Das Wasserbecken auf dem Platz der Alten Synagoge zeichnet die Umrisse des von Nationalsozialisten zerstörten Gebetshauses nach. Foto: Patrick Seeger

Startpunkt an diesem Morgen ist das Eingangsportal des Kollegiengebäudes I, eingerahmt von Homer und Aristoteles. Die beiden in Bronze gegossenen antiken Größen stehen für das Stichwort „Universität“ und damit auch für ein dunkles Kapitel nationalsozialistischen Terrors in Freiburg. Ein per Smartphone abrufbares Hörstück berichtet kurz gefasst, wie jüdische und andere Mitglieder der Hochschule systematisch ausgegrenzt und verfolgt wurden.

Das Hörstück ist eins von insgesamt 28 Beiträgen, die Freiburger Studierende in einem Seminar erarbeitet haben, erzählt Dr. Heinrich Schwendemann von der Albert-Ludwigs-Universität. Die Idee zum virtuellen Hörspaziergang mit dem Namen „schalomfreiburg.de“ hatte Julia Wolrab, ehemalige Freiburger Geschichtsstudentin und aktuell Geschäftsführerin der Berliner Agentur „past[at]present“. Ihr Team definiert sich mit seiner Arbeit als Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Wolrabs Kolleginnen und Kollegen, die den Masterstudiengang „Public History“ an der Freien Universität Berlin absolvierten, haben die Texte redigiert und mit Bildern versehen, die Hörfassung umgesetzt und die Website programmiert. Aussagekräftige, kleinformatig bebilderte Rechtecke verweisen auf das jeweilige Thema der Audiobeiträge.

Lukas Schuwald, Heinrich Schwendemann und Maximilian Brandl (von links) präsentieren vor der Freiburger Synagoge eine Station des Audiowalks. Foto: Patrick Seeger

Flexible Route

Die Bausteine eröffnen neue und interessante Perspektiven. Sie geben Einblick in die Geschichte der Jüdischen Gemeinde, benennen Antisemitismus, das Schicksal von großen und kleinen Geschäftsleuten sowie des jüdischen Bürgertums in Freiburg. Die Themen Deportation, die Pogromnacht von 1938 und die Wiedergutmachung nach 1945 bilden ebenfalls eigene Kapitel. Alle Hörstücke sind mit einer Karte kombiniert, die den jeweiligen Standort angibt. In Arbeitskreisen haben die Studierenden die Themen diskutiert, Referate vorbereitet und festgelegt, was am Ende in den Audiowalk einfließen sollte. „Damit schlagen sie eine Brücke zu interaktiver und intermedialer Vermittlung von lokaler Geschichte“, sagt Schwendemann.

Der Rundgang sei nicht als festgelegte Route durch die Stadt konzipiert. „Er kann je nach Interesse, Zeit und Standort variiert werden.“ Nicht Denkmäler und Plaketten appellieren an die Erinnerung, sondern Geschichten und Erzählungen zu Lebensorten und aktuellen kontroversen Debatten wie die zum Platz der Alten Synagoge. „Sie sind wahrnehmbar für alle, die mit offenen Augen und Ohren durch Freiburg gehen“, so Schwendemann. Der Hörspaziergang ist leicht zu bedienen, kostenlos und richtet sich an alle Interessierten – auch an Jugendliche und junge Erwachsene sowie an Touristinnen und Touristen.

Der außergewöhnliche Lebensweg eines Freiburgers ist Inhalt des Hörstücks „Der aufrechte Stadtrat Robert Grumbach“. An den jüdischen sozialdemokratischen Rat erinnert ein Stolperstein in der Günterstalstraße 47. Die Sprecherin schildert den Druck auf den erfolgreichen Juristen und Stadtrat bis zur Deportation des Ehepaares Grumbach nach Gurs. Nach der Befreiung durch alliierte Truppen kehrten die Grumbachs nach Freiburg zurück. Er arbeitete wieder als Rechtsanwalt, engagierte sich für kulturelle Belange und starb im Alter von 85 Jahren hoch geehrt. Der Geschichtsstudent Lukas Schuwald hat den Beitrag verfasst. Für ihn war jüdische Geschichte ein völlig neues Thema. „Von Grumbach hatte ich vorher nie etwas gehört, obwohl ich Freiburger bin.“ Wenn er jetzt an den Orten des Audiowalks vorbeilaufe, befinde er sich mitten in der jüdischen Geschichte.

Am Freiburger Münster wird das Judentum als personifizierte Synagoge mit verbundenen Augen dargestellt. Foto: Patrick Seeger

Verbundene Augen und zerbrochene Torarolle

Einen Schritt ins Mittelalter macht der Hörspaziergang in der Vorhalle des Freiburger Münsters. Noch ist der Haupteingang wegen der Corona-Krise mit einem Gitter abgesperrt. Die am Münster abgebildeten Figuren sind dennoch gut sichtbar. Der angehende Historiker Maximilian Brandl, der das Hörstück geschrieben hat, verweist auf die mit verbundenen Augen dargestellte Synagoge als personifizierte Verkörperung des Judentums. In der Hand hält sie eine zerbrochene Torarolle. Flankiert wird sie von Figuren aus einem biblischen Gleichnis, den törichten Jungfrauen mit abgesenkten Ölgefäßen. Ihr gegenüber, neben den tugendhaften Jungfrauen, steht im blauen Gewand mit Kreuzesstab in der Rechten und einem Kelch in der Linken als Hinweis auf das Abendmahl die Ekklesia. Sie ist die Verkörperung der christlichen Kirche. „Da wird schnell klar, wer gelobt und wer kritisiert wird“, findet Brandl.

Eine weitere Station ist die Lederhandlung „Rees“ in der Schusterstraße 23. Auf der Website wird sie als „Lederwarenhändler Max Mayer“ angekündigt. Dahinter verbirgt sich die Arisierung des ehemaligen Ledergeschäfts, festgehalten im Roman „Der kleine Händler, der mein Vater war“. Geschrieben hat das Buch Mayers Tochter Lotte Paepke. Mit der digitalen Vermittlung von Geschichte habe das Seminar den rein akademischen Rahmen verlassen, was auch Probleme verursacht habe, erinnert sich Schwendemann. So hätten die aufwändig recherchierten Referate auf das Format der digitalen Ausgabe angepasst werden müssen. „Wir hatten nur wenig Platz und mussten knapp und prägnant formulieren, ohne durch die Verkürzung Fehler zu machen“, führt Brandl aus.

Zeugen der heutigen Zeit

Julia Wolrab steuerte sechs Interviews mit Menschen aus Freiburg als Zeuginnen und Zeugen des heutigen jüdischen Lebens bei. Die Stücke handeln von jüdischer Identität, vom Geschehen in der Synagoge, erlauben Einblicke in das „Privatarchiv der Jüdischen Geschichte“ des Journalisten Bernd Serger, erzählen vom Weggehen und Ankommen und von gegenwärtigem Antisemitismus in einem Interview mit Irina Katz von der Israelitischen Gemeinde. „Die Interviewten geben Antworten auf viele Fragen, die in den Hörstücken aufgeworfen werden, und sind eine sehr persönliche Ergänzung“, sagt Wolrab. Der Spaziergang sei zunächst auf die Innenstadt beschränkt; für den Anfang wäre das sonst zu viel geworden. „Aber das Projekt kann jederzeit erweitert werden.“

Eva Opitz

 

schalomfreiburg.de