Der umgedrehte Unterricht
Freiburg, 29.01.2019
Mit E-Learning-Seminaren will Politikwissenschaftler Ingo Henneberg das Format der klassischen Vorlesung aufbrechen. Die Studierenden sind dabei stärker eingebunden – und jeder Interessierte kann auf die Vorträge und Materialien online zugreifen.
Mit E-Learning das Format der klassischen Vorlesung aufbrechen: Die Studierenden sind stärker eingebunden und stellen ihre Arbeiten online. Foto: Sandra Meyndt
E-Learning, elektronisch gestütztes Lernen, das klingt aufregend. „Lange Zeit verbarg sich dahinter oft aber kaum mehr, als dass Materialien auf einem Server liegen, und alle können sie sich dort herunterladen“, sagt Ingo Henneberg, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Wissenschaftliche Politik. Als „PDF-Schleuder“ habe man dieses Modell im Rechenzentrum der Universität Freiburger karikiert, fährt der Friedens- und Konfliktforscher fort. Er weiß das, weil er an genau diesem Rechenzentrum ein Jahr lang Kurse im so genannten E-Learning-Qualifizierungsprogramm belegte. Sie ermöglichten ihm die Entwicklung eines deutlich erweiterten Ansatzes zum digital vernetzten Lehren und Lernen, der Studierende und Lehrende deutschlandweit, ja sogar international verknüpft. Dafür erhielt er 2018 den E-Learning-Preis der Albert-Ludwigs-Universität.
„Eigentlich war es Zufall“, erinnert er sich an die Initialzündung. Ende 2015 sei er auf einer Tagung von Friedens- und Konfliktforscherinnen und -forschern gewesen. In den Medien war damals der Terror des so genannten Islamischen Staates (IS) allgegenwärtig. „Die Dozentinnen und Dozenten fanden es alle wichtig, unseren Studierenden dazu etwas anzubieten.“ Eine Teilnehmerin habe daher eine gemeinsame Lehrveranstaltung zum Thema angeregt, um Expertise zu bündeln. Zu dieser Veranstaltung könnten Studierende aller Universitäten mit gecharterten Bussen anreisen, habe ein anderer Forscher vorgeschlagen.
Videokonferenz statt Busreise
Henneberg war sich sicher: „Das konnte so kaum funktionieren. Erstens, weil Kosten entstehen – für Studierende ist das immer ein Problem.“ Zweitens, weil er bezweifelte, ob sich die wenigen, weit verstreuten IS-Expertinnen und -Experten so schnell auf einen gemeinsamen Termin und Ort würden einigen können. „Und schnell wollten wir ja sein, um auf die Entwicklung zügig zu reagieren.“
Dem analogen Vorschlag stellte der Freiburger Politikwissenschaftler daher spontan einen digitalen Ansatz gegenüber: „Eine Art Videokonferenzschaltung. Die Studierenden sitzen in ihren jeweiligen Universitäten, und wöchentlich werden wechselnde Fachleute live hinzugeschaltet.“ Diese Idee stieß auf Zustimmung, und bereits ein halbes Jahr später, im Sommersemester 2016, fand die standortübergreifende Ringvorlesung zur Terrormiliz IS/Daesh statt. Studierende von neun deutschen Universitäten nahmen teil. „Es war das erste Mal, dass zu diesem Thema viele Einzelaspekte zu einer Gesamtschau zusammengetragen wurden“, sagt Henneberg.
Wichtig im Studium und in der Arbeitswelt: In den E-Learning-Seminaren arbeiten die Studierenden stets in Teams zusammen. Foto: Vasyl/stock.adobe.com
Von der digitalen Vorlesung zum Ringseminar
Hinterher war das Lob groß. Trotzdem waren sich Henneberg und seine Kolleginnen, die die Vorlesungsreihe gemeinsam organisiert hatten, sicher, dass da noch Luft nach oben war, vor allem, was die Form der Lehrveranstaltung betraf: „Vorlesungen sind ja grundsätzlich nicht das modernste didaktische Format.“ Sie wollten die Studierenden aus der Zuhörerposition holen, sie stärker aktivieren und einbinden. Das nächste E-Learning-Projekt konzipierte das Team um Henneberg daher als Ringseminar. „Gefährdung des Friedens in Europa?“ lautete diesmal das Thema. Die Fragestellung bündelte Phänomene wie den Brexit, die rechtspopulistischen Strömungen in vielen Ländern, aber auch aktuelle wirtschaftliche Krisen – etwa in Griechenland –, und überlegte, ob und wie sie die europäische Friedensordnung ins Wanken bringen könnten. Fünf weitere Universitäten in Deutschland nahmen daran teil, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von unterschiedlichen Forschungsinstituten in Europa und Kanada lieferten die Inhalte.
Das Seminar orientierte sich am didaktischen Modell des „flipped classrooms“ – des „umgedrehten Unterrichts, wie man diesen Begriff ungefähr übersetzen kann. In diesem Modell gibt es kaum Frontalunterricht, der die Studierenden mehr oder weniger schnell erschöpft. Stattdessen beteiligen sie sich selbst an der Gestaltung, wobei sie schnell merken, wie gut oder wie schlecht sie den Stoff bereits durchdrungen haben.
„Wir baten die Experten zunächst um Videovorträge, eher kurze Impulse von um die 20 Minuten“, erläutert Henneberg den ersten Schritt. „Und diese Vorträge stellten wir bereits vor dem Seminar zur Verfügung.“ Sie dienten der Vorbereitung – genau wie die elektronischen Dossiers, die die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aller Universitäten dann in Gruppenarbeiten für die Seminarstunden erstellten. Wertvolle Seminarzeit wurde so für die vertiefende Auseinandersetzung frei. Auch hier waren die Studierenden gefragt: als Moderatorinnen und Moderatoren, die den jeweiligen Experten die ersten Fragen stellten und damit die Diskussion in Schwung brachten.
Digitale Werkzeuge: Onlineforen und Messenger
Den Organisationsgrad des Seminars beschreibt Henneberg als herausfordernd: „Eine Diskussion via Video zwischen einem Experten an einer Universität und Studierenden an sechs weiteren – die muss im Vorfeld schon ein bisschen abgestimmt werden.“ Viele digitale Werkzeuge kamen dabei zum Einsatz: Die Studierenden koordinierten sich mittels Onlineforen, Messenger, auch Skype. Um ihnen Hilfestellung bei der Erarbeitung ihrer elektronischen Dossiers zu geben, verfasste das Organisationsteam – sieben Personen von sechs Universitäten und ihre Hilfskräfte – Handbücher. In den Videoseminaren sorgte später das digitale didaktische Tool Tweedback dafür, dass in der standortübergreifenden Diskussion niemand zu kurz kam. Henneberg hebt an dieser Stelle auch die große Unterstützung vonseiten des Freiburger Rechenzentrums, insbesondere durch die Abteilung E-Learning, hervor: „Ohne diese Hilfe wäre ein solch komplexes Projekt schlicht nicht durchführbar.“
Ende 2015 kam Ingo Henneberg auf einer Tagung von Friedens- und Konfliktforschern auf die Idee eines neuen E-Learning-Ansatzes. Foto: Patrick Seeger
Wie begeistert die Studierenden von seinem Konzept waren, konnte der Politologe schon an den Arbeiten ablesen, die sie einreichten. „Manches hat uns regelrecht umgehauen, zum Teil wurde eine Qualität abgeliefert, mit der wir wirklich nicht gerechnet haben.“ Dabei wurden nicht nur wissenschaftliche, sondern auch journalistische Ansätze gewählt: Straßenumfragen, Interviews, auch Radiofeatures. Eine Gruppe wurde für ihren Seminarbeitrag zum Rechtspopulismus sogar mit dem Medienpreis des Landes Nordrhein-Westfalen ausgezeichnet.
Tendenziell grenzenlos
Das sei eben schon etwas ganz anderes als eine normale Hausarbeit, die nur die Dozentin oder der Dozent lesen, findet Henneberg: „Die Studierenden präsentieren ihre Arbeit der digitalen Community, die tendenziell grenzenlos ist.“ Denn das Seminar steht inzwischen im Netz: Jede und jeder, der interessiert ist, kann auf Vorträge und Materialien zugreifen. „So begreife ich die Aufgabe der Universität“, kommentiert der Politikwissenschaftler: „Dass sie ihr Wissen nicht nur im Verborgenen generiert, dass sie es in den Dienst der Gesellschaft stellt.“
Nach so vielen guten Erfahrung startete im Sommersemester 2018 gleich das nächste digitale Ringseminar, diesmal über den Zusammenhang von Sicherheit, Entwicklung und Migration am Beispiel Afrikas: „Meine Studierenden bereiten es gerade für das Netz auf.“ Daran waren sogar acht Universitäten beteiligt – eher zu viele, wie Henneberg findet: Es werde dann zu kompliziert, und die Technik gelange an ihre Grenzen. Sechs Partner seien eine gute Größe – imposant genug, um auch die angefragten Experten zu beeindrucken: „Bittet eine Uni um einen Vortrag, kann das klappen. Fragt ein ganzes Konsortium, steigen die Chancen erheblich.“
Dass sein E-Learning-Konzept der neue Standard sein sollte, findet der Freiburger Politikwissenschaftler allerdings nicht: Das klassische Seminar behalte seine Berechtigung, aber das E-Learning-Modell könne eine sehr interessante Ergänzung und Bereicherung sein. „Ich bin zuversichtlich, dass sich solche Ansätze in Zukunft häufiger in der Lehre wiederfinden werden.“
Mathias Heybrock