Auch Freiburg tickt anders
Freiburg, 09.10.2020
Was macht Freiburg aus? Diese Frage stellten sich Masterstudierende der Albert-Ludwigs-Universität anlässlich des 900. Stadtjubiläums. Unter der Leitung der Kulturanthropologin Dr. Sarah May verfassten sie in dem Lehrprojekt „Alltag findet Stadt“ zahlreiche Essays zu verschiedenen Formen von Alltag. Ihre Ergebnisse veröffentlichten die Studierenden in einem Bildband.
Einst Teil eines hygienischen Konzepts dienen die Freiburger Bächle heute als idyllisches Werbemotiv beim Stadtmarketing. Foto: Finn Hagen
Ob flüchtige Kritzeleien an einer Toilettenwand, das Plätschern der Bächle in der Freiburger Altstadt oder ein Instagram-Post von der Blauen Brücke am Hauptbahnhof. Kultur ist für die empirische Kulturwissenschaftlerin Sarah May „das, was den Alltag strukturiert und gleichzeitig auch das, was wir durch unsere Handlungen und unser Denken hervorbringen“. Ihr Kulturbegriff beschränkt sich daher keineswegs auf die Hoch- und die Populärkultur. May und acht Masterstudierende des Instituts für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie untersuchten in dem Lehrprojekt „Alltag findet Stadt“, wie Menschen in Freiburg ihren Alltag wahrnehmen und wie sich dieser in Routinen und Praktiken umsetzt. Als Teil der Festlichkeiten zum Freiburger Stadtjubiläum 2020 geplant begann das Projekt im Wintersemester 2019 und stützte sich beispielsweise auf die Ausstellung „WarteArt“ zu Beschäftigungen und Empfindungen beim Warten und den Bildband „Platz da!“, der dokumentiert, wie Freiburgerinnen und Freiburger ihre wachsende Stadt wahrnehmen. Für solche forschungsorientierten Lehrprojekte erhielt May 2018 den Universitätslehrpreis der Universität Freiburg.
Essays in Wort und Bild
„Es ging uns um die Erforschung der Spezifika von Freiburg“, so May. „Was ist gegenwärtig das Besondere in der Stadt?“ Die Studierenden machten Beobachtungen, führten Interviews, unternahmen Archivrecherchen und schrieben insgesamt 17 Essays, deren Themen sie selbst auswählten. Die meisten steuerten je zwei Texte bei, May schrieb den einleitenden Text sowie den Essay „können“. Alle Essays sammelte und illustrierte das Projektteam in einem großformatigen Text- und Bildband, der auch an eine nichtwissenschaftliche Öffentlichkeit gerichtet ist.
Um ihre Forschungsergebnisse für die Öffentlichkeit aufzubereiten, erhielten die Studierenden professionelle Unterstützung: Sie überlegten sich zuerst, wie sie das Besondere an Lebenssituationen durch Worte, aber auch durch Bilder kommunizieren können. Der Fotograf Finn Hagen hielt die Forschungsfelder in Bildern fest. Die Freiburger Grafikerin Sonja Koskowski entwarf das Layout für den Band. Das Medienzentrum der Universität unterstützte das Team beim Erstellen einer Videoreihe auf Instagram, die ebenfalls Teil des Projekts ist. Das Meiste – wie den Bildband und die Videoreihe umzusetzen sowie die Finanzen zu betreuen – erledigten die Studierenden jedoch selbst. „Ich habe den Prozess begleitet und kritisch nachgefragt. Besonders wichtig war mir, dass die Arbeit im Team gleichberechtigt und eigenverantwortlich erfolgte“, erklärt May.
Die Toilettenwand als Stimmungsbarometer: In Form von Kritzeleien teilen WC-Gäste der Öffentlichkeit selbst intimste Gedanken mit. Foto: Finn Hagen
Stadt als Eigenlogik und dynamischer Prozess
Die theoretische Grundlage für die Arbeit der Studierenden bildete das soziologische Konzept der Eigenlogik, das der Soziologe Pierre Bourdieu prägte. Es geht davon aus, dass jede Stadt ihr eigenes, unverwechselbares und individuelles Gepräge besitze sowie spezifische Handlungen und Deutungen vorgebe. Auf die Arbeit an dem Projekt übertragen bedeute dies: „Jede Stadt, auch Freiburg, tickt anders, hat ihren eigenen Rhythmus, ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten. Was als Alltagsweisheit daherkommt, lässt sich dahingehend zuspitzen, dass die Eigenlogik einer Stadt als eine Struktur funktioniert, eine Art Rückgrat, aus dem heraus sich intuitiv die Handlungen ihrer Einwohnerinnen und Einwohner vollziehen.“
Eine weitere Grundannahme des Projekts – Stadt sei nichts Statisches, sondern ein dynamischer Prozess – verdeutlicht Marlene Diemb in ihrem Essay „fließen“. Er handelt von den Bächle der Stadt und ihrem Bedeutungswandel. So diente das Netz aus Rinnsalen, die die Innenstadt durchziehen, einst einem hygienischen Konzept, während es heute als idyllisches Werbemotiv Teil des Stadtmarketings ist. Dass auch die Aneignung und Neuorientierung in der Stadt für Neubürgerinnen und Neubürger ein Prozess sei, zeigt Karlin Schumacher in ihrem Essay „ankommen“. „Um zu verstehen, wo ich eigentlich bin, bin ich zu Fuß gegangen. Dann sieht man mehr und ich konnte mir besser eine Orientierung verschaffen“, erzählt die Studentin Maria Aunen, die im Zuge eines Erasmus-Aufenthalts in Freiburg war.
Von Toilettenwänden und sozialen Medien
Ihre Feldforschung zur Poesie von Toilettensprüchen fasst Leonie Hagen in dem Text „kritzeln“ zusammen: Die paradoxe Kommunikationsform solcher Sprüche, in der Forschung auch „Toilettenparadoxon“ genannt, bei der in aller Öffentlichkeit Intimstes verhandelt wird, betrachtet sie unter anderem unter dem Aspekt eines „Stimmungsbarometers“. Lea Breitsprecher untersucht in ihrem Essay, was passiert, wenn ein Motiv von Freiburg in den sozialen Medien gepostet wird. Die Antwort lasse sich laut Breitsprecher auf die kurze Formel bringen: Der Stadtraum erweitere sich in den virtuellen Raum. Freiburg bestehe demnach nicht länger nur aus den Häusern und Straßen der Stadt, sondern auch aus Bildern, Erzählungen, Notizen, Kommentaren und Wertungen.
„Die Wahrnehmungen der Akteurinnen und Akteure schaffen die Stadt. Wir gehen in der Kulturanthropologie davon aus, dass etwas wie eine Stadt nicht einfach vorhanden, sondern ein Konstrukt ist, das geschaffen wird“, erklärt Breitsprecher. Zudem verweist sie darauf, dass verschiedene Menschen Gegenstände, Vorgänge oder Handlungen unterschiedlich wahrnehmen und bewerten. „Das ist im Prinzip das, was wir mit unserem Projekt erreichen wollen: Wir stellen verschiedene Akteurinnen und Akteure mit ihren verschiedenen Sichtweisen auf die Stadt vor und zeigen dadurch, welche Vielfalt es geben kann, welche Mehrdeutigkeiten entstehen. Freiburg ist nicht einfach so da. Die Stadt entsteht erst durch die vielen Blickwinkel.“
Hans-Dieter Fronz
Website von „Alltag findet Stadt“
Bildband „Alltag findet Stadt“