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Was am Mainstream besonders ist

Im Songlexikon wird die musikalische und gesellschaftliche Bedeutung populärer Lieder analysiert

Freiburg, 08.03.2017

Was am Mainstream besonders ist

Foto: Hans Peter/Warner Bros. Records

Das Zentrum für Populäre Kultur und Musik (ZPKM) der Universität Freiburg gibt ein Songlexikon heraus. Es bietet mehr als 150 interdisziplinäre Artikel zu internationalen populären Liedern aus der Zeit von 1930 bis in die Gegenwart.

Die Luft surrt elektrisch. Pferde galoppieren über harten Boden, Laserwaffen feuern. Sturm, Explosion, Sirenen. Der Gesang löst das Intro mit einer langsamen Melodie ab und erzeugt die schicksalhafte Stimmung einer weiten Steppe. Ein rhythmisches Gitarrenriff durchbricht die ruhige Atmosphäre wieder und setzt den schnellen Ritt vom Beginn fort, der das Lied bis zum Ende bestimmt. „Knights of Cydonia“ von Muse ist ein musikalischer Stilmix, der stark an die Musik Ennio Morricones erinnert, sich aber von dessen Italowestern-Ästhetik durch synthetisch-futuristische Sounds abhebt. Das Lied erzählt von der Auflehnung gegen die Regierenden und ist ein Dauerbrenner auf den Konzerten der britischen Band.


Bei Konzerten von Muse ist „Knights of Cydonia“ ein Dauerbrenner – das zugehörige Musikvideo vereint Stilelemente von Western und Science-Fiction-Filmen.
Foto: Hans Peter/Warner Bros. Records

Hintergrundinformationen und Analysen zu Liedern wie diesem findet man im Songlexikon, welches das ZPKM der Universität Freiburg, das aus dem Deutschen Volksliedarchiv hervorgegangen ist, herausgibt. Das Online-Lexikon bietet interdisziplinäre Artikel zu internationalen populären Liedern, die seit Beginn der Tonaufzeichnung entstanden sind. Mehr als 150 Songs aus der Zeit von 1930 bis 2012 sind dokumentiert. Den Anfang macht „Veronika, der Lenz ist da“ von den Comedian Harmonists. Das neueste Lied ist „Survival“, ebenfalls von Muse. „Wir wollen mit diesem Projekt neben dem wissenschaftlichen Beitrag auch etwas für die breite Öffentlichkeit schaffen“, sagt der Historiker und Literaturwissenschaftler Dr. Dr. Michael Fischer, Geschäftsführender Direktor des ZPKM. Er hat das Songlexikon 2011 zusammen mit Prof. Dr. Fernand Hörner von der Hochschule Düsseldorf begründet und gibt es bis heute mit heraus. „Die Artikel sind so geschrieben, dass sich jeder Mensch informieren kann. Da sich viele Jugendliche schnell für Musik begeistern, eignet sich das Songlexikon zum Beispiel hervorragend für den fächerübergreifenden Schulunterricht.“ Um in das Lexikon aufgenommen zu werden, muss ein Lied ein sehr breites Publikum ansprechen, außerdem medial vermittelt und industriell-technisch produziert worden sein.


Aus der Zeit der Schellackplatte: Von den Comedian Harmonists stammt das älteste Lied, das im Songlexikon erfasst ist.
Foto: Patrick Seeger

„Große Songs verlieren oft etwas von ihrem monumentalen Charakter, wenn man weiß, wie sie entstanden sind“, berichtet der Musikwissenschaftler Privatdozent Dr. Christofer Jost vom ZPKM, der das Projekt betreut. Ein Beispiel ist der Titel „Goldfinger“, der als „James-Bond“-Song schlechthin gilt. Es habe damals sehr lange gedauert, die beiden simplen, heute berühmten Anfangsakkorde zu komponieren. „Dennoch hasste der Filmproduzent das Lied. Es existiert nur, weil die Zeit zu knapp für ein neues war“, sagt Jost.

Inszenierung in Musikvideos

Eine traditionelle musikalische Analyse wie bei Werken klassischer Musik reicht bei populärer Musik nicht aus. Die Artikel des Songlexikons erzählen daher die Entstehungsgeschichte der Lieder und betrachten sie in ihrem soziokulturellen Kontext. „Bond“-Songs zum Beispiel entstehen im Spannungsfeld zweier Genres. Als Filmmusik sind sie Auftragsarbeiten und unterstützen die Handlung des Films. Als Populärmusik müssen sie aber auf dem Musikmarkt für sich selbst stehen. „Wenn ein ‚Bond‘-Song keine Hitsingle ist, ist das nicht unbedingt förderlich für den Film“, fasst Jost zusammen. „Das Lied ist der Prolog zum Film – ein Paradebeispiel für Crossmedialität: Film- und Tonträgerindustrie arbeiten vom ersten Entstehungsschritt an zusammen.“

Auf Erläuterungen zum Kontext des Liedes folgen im Songlexikon die Analysen der Musik, der Videos und der Texte. Zuletzt werden die Wirkung des Songs und seine Rezeption beleuchtet. „Goldfinger“ charakterisiert musikalisch die Figuren im Film und weckt gleichzeitig ein erstes Gefühl für die Handlung. „Die beiden wuchtigen Akkorde zu Beginn erzeugen eine mysteriöse und spannende Atmosphäre. Sie engen die Assoziationen sofort ein und spielen auf den Bösewicht des Films an“, erklärt Jost. Sängerin Shirley Bassey setzte mit dem Lied durch ihre kraftvolle, soulige Stimme Standards für „Bond“-Titelsongs. Der Song wurde oft gecovert und blieb in den USA ihr einziger Hit.


„Goldfinger“ gilt als „James-Bond“-Song schlechthin. An ihm wird deutlich, wie eine Titelmelodie die Handlung eines Films unterstützen kann.
Grafik: Svenja Kirsch

Die Autorinnen und Autoren des Songlexikons kommen unter anderem aus den Kulturwissenschaften, den Sprachwissenschaften, der Geschichte und der Ethnologie. Daher ist bei manchen Beiträgen der musikanalytische Teil ausführlicher als bei anderen, die vielleicht stärker den historischen Hintergrund beleuchten. Wichtig ist aber, dass die Autoren jedes Lied ganzheitlich betrachten. „Die Inszenierung der Band in den Musikvideos soll mindestens ebenso stark berücksichtigt werden wie der kulturell-historische Kontext des Songs oder der analytische Teil“, hebt Fischer hervor. So betont das Video zu „Knights of Cydonia“ die Anklänge an den Italowestern, setzt sich aber gleichzeitig durch futuristische Elemente davon ab. Es erzählt zwischen einem Vorspann und einem Abspann die Geschichte eines Cowboys, der sich mit seinem Gegenspieler anlegt und eine schöne Frau vor dem Galgen rettet. Die Geschichte ist im Wilden Westen angesiedelt, zitiert aber vor allem Science-Fiction-Klassiker wie „Star Wars“, „Matrix“ und „Barbarella“. Glücksspiel und Schlägereien im Saloon kontrastieren mit Robotern, Martial-Arts-Sequenzen und Laserduellen. Die Band inszeniert sich teilweise in der Wüste, erscheint an anderen Orten aber auch als Hologramm.

Nach und nach soll das Lexikon möglichst viele Genres abbilden. Da dies nur durch viele Beteiligungen möglich ist, gibt es bereits zahlreiche Kooperationen mit anderen Universitäten. „Wir würden uns dazu gerne noch stärker in Freiburg verankern und auch lokal ein engeres Netzwerk aufbauen“, so Fischer. „Es gibt hier noch viele andere Fächer, die wir für das Projekt gewinnen möchten.“ Den Autoren steht frei, welche Lieder sie untersuchen möchten. „Wir haben nicht den Anspruch, dass das Lexikon repräsentativ oder vollständig ist. Wichtiger ist, dass die Autoren sich für ein Lied wissenschaftlich begeistern können, ohne dabei eine Fanperspektive einzunehmen“, findet Fischer. Folglich hat das Lexikon auch Lücken. Zum Beispiel mangelt es noch an Schlagern und deutschsprachiger Popmusik. „Auch fehlen Songs, die gesellschaftlich verpönt, aber trotzdem wahnsinnig erfolgreich sind. Es gibt viele Hits, die eher simpel erscheinen, die bei ihren Fans aber große Gefühle auslösen. Leider gibt es wenig Forschung zu solchen Phänomenen“, meint Jost. Dabei sei es gerade bei Liedern, deren Erfolg schwer nachvollziehbar ist oder die aus politischer Sicht umstritten sind, am wichtigsten, zu verstehen, warum sie eigentlich populär werden, erklärt Fischer. „Die Wissenschaft müsste sich stärker dem Mainstream zuwenden, um herausfinden zu können, wie sich der individuelle Musikgeschmack ausbildet.“

Einsatz in der Lehre

Das Songlexikon wird auch in der akademischen Lehre eingesetzt. Da Lieder von gesellschaftlichen Strömungen geprägt sind und aus politischen Kontexten heraus entstehen, sagen sie einiges über ihre Zeit aus. Die Untersuchung von Musik kann deshalb viele Fächer bereichern. Auch an der Universität Freiburg werden eigens Seminare dazu angeboten, zum Beispiel in der Romanistik. Anstelle einer Seminararbeit können die Studierenden einen eigenen Artikel über ein Lied verfassen und im Falle einer mehrfachen erfolgreichen Begutachtung im Songlexikon veröffentlichen. So ist auch der Eintrag zu „Knights of Cydonia“ entstanden. „Die Studierenden bekommen dadurch einen einmaligen Einblick, wie interdisziplinäre wissenschaftliche Arbeit funktioniert. Und im besten Fall können sie danach ihre erste Publikation vorweisen“, sagt Jost. Dabei handele es sich um mehr als nur Nachwuchsarbeit, betont Fischer. „Wir wollen mit dem Songlexikon Vorreiter sein. Es ist etwas Besonderes, dass ein einziges Forschungsprojekt interdisziplinäre Arbeit und internationale Vernetzung so gut vereint, dabei der Öffentlichkeit dient und die Forschung mit der Lehre verzahnt.“

Sarah Schwarzkopf

www.songlexikon.de