Verschwenderische Zwischenphase
Freiburg, 06.11.2018
Am 21. Dezember 2018 schließen in Bottrop und Ibbenbüren die beiden letzten Zechen Deutschlands. Der Steinkohlebergbau hierzulande endet – und damit ein gesamtes Zeitalter, betont Prof. Dr. Dr. Franz-Josef Brüggemeier. In einer Ausstellung und einer Monografie zeigt der Freiburger Historiker, welche enorme Bedeutung der Kohle in den vergangenen 250 Jahren zukam: ob für die Industrialisierung und Globalisierung, die beiden Weltkriege oder die Stabilisierung von Demokratien und die europäische Einigung. Zudem vertritt er die These, dass das Zeitalter der Kohle eine verschwenderische, aber notwenige Zwischenphase war, die es in Zukunft ermöglichen kann, zum vorindustriellen Prinzip der Nachhaltigkeit zurückzukehren.
Bunte Vielfalt: Synthetische Farben basierten zunächst auf Teer – einem Nebenprodukt bei der Koksherstellung, das als maßgeblicher Rohstoff für die chemische Industrie diente. Foto: Helena Grebe
Eigentlich stand Kohle dem Menschen seit jeher zur Verfügung. Doch bis ins 18. Jahrhundert nutzte er sie kaum: Wenn sie verbrennt, kommt es zu Rauch, Ruß, Dreck und Gestank. Stattdessen war Holz der wichtigste Rohstoff, um Wärme zu erzeugen. Überhaupt verwendeten vorindustrielle Gesellschaften vor allem Materialien, die nachwuchsen und auf der Umwandlung von Sonnenenergie beruhten – ob Holz, Getreide oder tierische Erzeugnisse wie Fleisch und Felle. Diese Ressourcen konnte der Mensch auf Dauer nicht schneller verbrauchen, als sie sich erneuerten. Zudem nutzte er Wind- und Wasserkraft, etwa als Antrieb für Mühlräder. „Hinsichtlich Energie und Ressourcen waren diese Gesellschaften nachhaltig“, bilanziert Franz-Josef Brüggemeier.
Die Wende kam mit der Dampfmaschine. Mit ihr gelang es erstmals in großem Maßstab, Wärme in Bewegung umzusetzen. Dazu waren vormals nur Menschen und Tiere fähig – auf der Grundlage ihrer Nahrung. „Doch damit ein Pferd einen Pflug ziehen kann, ist ein enormer energetischer Aufwand erforderlich, und die Leistung ist begrenzt“, erklärt der Historiker. Als aber das Prinzip der Dampfmaschine verstanden war, wurde es möglich, immer größere Mengen an Energie zu erzeugen, um Maschinen anzutreiben. Und der Rohstoff, der Energie in gespeicherter, jederzeit abrufbarer Form bereitstellte und in nahezu unbegrenzten Mengen vorhanden war, ohne nachwachsen zu müssen, war die Kohle. „Sie entpuppte sich als Schatzkammer, deren Kräfte über Jahrhunderte geschlummert hatten und jetzt innerhalb weniger Jahre freigesetzt wurden.“
Licht im öffentlichen Raum: Laternen in den Städten Europas nutzten bis nach dem Zweiten Weltkrieg Gase, die bei der Koksproduktion frei wurden. Foto: Helena Graebe
Hellere und buntere Welt
Damit war der Weg frei für die industrielle Revolution und letztlich für die moderne Gesellschaft. Bergbau, Eisen- und Stahlindustrie wuchsen nach 1850 rasant, Eisenbahnen und Dampfschiffe krempelten das Transportwesen um und sorgten für einen Globalisierungsschub, Kohlekraftwerke erzeugten Strom in großen Mengen. Damit nicht genug, betont Brüggemeier: „Kohle hat die Welt zusätzlich auch heller und bunter gemacht.“ Dafür sorgten vermeintliche Abfallprodukte. In Kokereien wurde Kohle luftdicht abgeschlossen und erhitzt, um mit Koks einen reineren Brennstoff für die Industrie herzustellen. Die Gase, die dabei frei wurden, beleuchteten bis weit ins 20. Jahrhundert die Städte in Europa. Teer, ein weiteres Nebenprodukt, stand am Beginn der auf Kohlenstoff basierenden organischen Chemie. Zunächst gelang es, synthetische Farbstoffe für die Textilindustrie herzustellen. „Als erst einmal bekannt war, was ein Molekül ist und wie es aufgebaut ist, entwickelte sich auf der Basis von Teer die chemische Industrie – mit Produkten vom Reinigungsmittel über Plastik bis hin zu Medikamenten.“
Linkes Bild: Für die Bundesrepublik Deutschland unterzeichnete Bundekanzler Konrad Adenauer (links) den EGKS-Vertrag, der auf eine Initiative des französischen Außenministers Robert Schuman (Mitte) zurückging. Jean Monnet (rechts) wurde erster Präsident der Hohen Behörde, des ausführenden Organs der EGKS.
Rechtes Bild: Die Ausstellung „Das Zeitalter der Kohle. Eine europäische Geschichte“ zeigt unter anderem das Original des Vertrags über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), die den Grundstein für die spätere Europäische Union legte. Fotos: Lorenza Kaib
Seine Höhepunkte erreichte das Kohlezeitalter im 20. Jahrhundert – zunächst den negativen: „In den Weltkriegen wurde das ungeheure Potenzial industrieller Produktion deutlich“, sagt Brüggemeier. „Diese Materialschlachten wären ohne Kohle nicht denkbar gewesen.“ Doch aus dieser Erfahrung erwuchs eine Friedensarchitektur, die den positiven Höhepunkt markiert. „Eine generelle Erkenntnis nach dem Zweiten Weltkrieg war: Der Staat muss eine viel größere Rolle spielen, um soziale Konflikte zu lösen und letztlich die Demokratie zu stabilisieren. Das war im Bergbau und in der Schwerindustrie besonders dringlich und schwappte dann auf viele andere Bereiche über.“ In Deutschland führte das zur erweiterten Mitbestimmung: Gewerkschaften und Unternehmer hatten fortan in den Aufsichtsräten des Bergbaus sowie der Eisen- und Stahlindustrie gleich viele Mitglieder. Und in der Montanunion verständigten sich Deutschland, Frankreich, Belgien, Niederlande, Luxemburg und Italien über die Produktion und Verteilung der Kohle – der Grundstein für den Wiederaufbau und den europäischen Einigungsprozess war gelegt.
Zu teuer, nicht konkurrenzfähig
Doch schon Ende der 1950er Jahre ging es mit der Kohle in Deutschland bergab. Öl und Gas waren effizientere und kostengünstigere Alternativen, später kam die Atomenergie hinzu. Zunächst galt es noch als wichtig, aus Gründen der nationalen Sicherheit im Energiesektor möglichst unabhängig zu bleiben – dafür sorgten unter anderem die Ölkrisen der 1970er Jahre. Doch Kohle aus Deutschland war auf Dauer zu teuer und international immer weniger konkurrenzfähig. „Die staatlichen Subventionen, die den Betrieb über Jahrzehnte aufrechterhielten, waren letztlich viel zu hoch“, sagt Brüggemeier. „Es ist finanziell die völlig richtige Entscheidung, jetzt die letzten Zechen zu schließen.“
Für schwere Arbeiten im Untergrund: Der Schrämzwerg war ein charakteristisches Instrument für die Phase zwischen dem Kohleabbau von Hand und dem maschinellen Abbau. Foto: Helena Grebe
Dies bedeutet indes nicht, dass der Energieträger ausgedient hat – schon gar nicht global. Weltweit nimmt die Kohleförderung weiter zu. Die Debatte um die Endlichkeit der Ressource, die bis vor wenigen Jahren geführt wurde, hat sich gedreht, beobachtet der Historiker: „Kohle steht offenbar nach wie vor in riesigen Mengen zur Verfügung. Und solange die Umweltkosten, die durch die Freisetzung von Kohlendioxid und anderen Schadstoffen entstehen, nicht einberechnet werden, ist sie vergleichsweise billig.“ Hinzu kommt, dass ihre Eigenschaft als Energiespeicher sie weiterhin attraktiv macht: Da die Erträge von Solar-, Wind- und Wasserkraftanlagen stark schwanken, kann sie dazu beitragen, eine konstante und sichere Versorgung zu garantieren. Brüggemeier erwartet deshalb: „Auf absehbare Zeit wird importierte Kohle in Europa weiterhin eingesetzt werden.“
Zurück zur Nachhaltigkeit
Das langfristige Ziel scheint dennoch, zumindest hierzulande, klar zu sein: weg von den fossilen Brennstoffen Kohle, Öl und Gas, hin zu erneuerbaren Energien. „In gewisser Weise wollen wir an das vorindustrielle Zeitalter anknüpfen, indem wir wieder Sonne, Wind und Wasser einsetzen“, sagt Brüggemeier. „Im Kern wird es darum gehen, dass neuartige Netzwerke und Speichertechnologien das ersetzen, was bisher die fossilen Energieträger ermöglicht haben.“ Wenn das gelingt, war dann das etwa zweieinhalb Jahrhunderte dauernde Kohlezeitalter möglicherweise die einzige Phase in der Geschichte, in der sich die Menschheit nicht nachhaltig mit Energie versorgt hat? Vermutlich ja, meint der Historiker – und doch war dieses Zeitalter aus seiner Sicht unverzichtbar. „Es brauchte diese mühsame, anstrengende, auch verschwenderische und für viele Menschen sogar schreckliche Zwischenphase, in der sich die Wissenschaft und Technik, aber auch demokratische Institutionen und soziale Errungenschaften entwickelt haben. Mit dieser Grundlage kann es nun gelingen, auf einem ganz anderen Niveau der permanenten und sicheren Versorgung mit Energie zur Nachhaltigkeit zurückzukehren.“
Nicolas Scherger
Adolf Hennecke, Bergmann und SED-Funktionär in der DDR, vor Plakaten zur Anwerbung von Bergleuten: Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Kohle in allen Staaten Europas ein unentbehrlicher Faktor für den wirtschaftlichen Aufschwung. Foto: Helena Grebe
Informationen zur Ausstellung
Die Sonderausstellung „Das Zeitalter der Kohle. Eine europäische Geschichte“, eine Kooperation des Essener Ruhr Museums und des Deutschen Bergbau-Museums Bochum, ist noch bis 11. November 2018 in der Kokerei der Zeche Zollverein in Essen zu sehen. Sie hat einen nationalen und einen internationalen Preis erhalten.
www.zeitalterderkohle.de
Zum Weiterlesen
Brüggemeier, Franz-Josef (2018): Grubengold. Das Zeitalter der Kohle von 1750 bis heute. München.
Grütter, Heinrich Theodor/Brüggemeier, Franz-Josef/Farrenkopf, Michael (Hgg.)(2018): Das Zeitalter der Kohle. Eine europäische Geschichte. Essen.