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Warum sich die „Neue Kulturgeographie“ wieder verstärkt Materien und Materialien zuwendet

Freiburg, 03.04.2018

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Foto: haveseen/Fotolia

Materie, Materialien, Methoden: Zu diesem Thema hat Prof. Dr. Annika Mattissek gemeinsam mit ihrem Team im Januar 2018 die Tagung „Neue Kulturgeographie“ an der Universität Freiburg ausgerichtet. Nicolas Scherger hat die Geographin gefragt, wie sie den derzeitigen Wandel ihrer Disziplin wahrnimmt.


Welche Vorstellungen von Natur liegen der Naturschutzpolitik zugrunde? Amerikanische Nationalparks wie Yosemite sehen eine reine Natur ohne Menschen vor. In Deutschland dagegen gilt auch die von Menschen gestaltete Natur als schützenswert.
Foto: haveseen/Fotolia

Frau Mattissek, warum stellt sich eine Raumwissenschaft überhaupt die Frage nach der Bedeutung von Materie und Materialien?

Annika Mattissek: Die Geographie hat seit der Jahrtausendwende zunehmend konstruktivistische Ideen aufgenommen. Diese Theorien und Ansätze beschäftigen sich damit, wie in Sprache und Medien Wirklichkeit hergestellt wird, wie Normen, Werte und Vorstellungen über raumbezogene Verhältnisse geschaffen werden und wie räumliche Images, Stereotype oder Naturvorstellungen unsere Handlungen prägen. Damit hat sich die „Neue Kulturgeographie“ intensiv auseinandergesetzt. Vor diesem Hintergrund mehren sich nun Stimmen, die sagen, dass Bedeutungskonstruktionen zwar wichtig sind, aber nicht alles abdecken und man deshalb auch materiellen Faktoren Rechnung tragen muss.


Die Abgrenzungen zu anderen Disziplinen sind nicht mehr so klar, wie sie früher einmal waren, sagt Annika Mattissek.
Foto: Jürgen Gocke

Was genau sind diese materiellen Faktoren?

Sie umfassen sowohl die biophysikalische Natur als auch die vom Menschen gemachte Umwelt, also Gebäude, Straßen und so weiter. All das kann Materialität in dem Sinne sein, dass es menschliche Handlungen prägt.

Ziel ist demnach ein Abgleich, inwiefern der konstruierte Raum den wirklichen Gegebenheiten entspricht?

Mit der Wirklichkeit ist es so eine Sache. Nehmen wir das Beispiel Naturschutz: Da geht es um die Frage, welche Vorstellungen von Natur der Naturschutzpolitik zugrunde liegen. Im amerikanischen Kontext ist die Trennung zwischen Natur und Kultur wichtig, sodass man Nationalparks eingerichtet hat, die eine reine Natur ohne Menschen vorsehen. In Deutschland dagegen gilt auch die von Menschen gestaltete Natur als schützenswert, etwa ein Wald, der von Forstbetrieben bewirtschaftet wird. Insgesamt geht es also um die Frage, wie im Zusammenspiel von Ideen, Normen und Werten einerseits und biophysikalischen Einflüssen andererseits Wirklichkeit entsteht.

Welches Beispiel aus Ihrer Forschung veranschaulicht besonders gut, dass materielle Faktoren wieder eine wichtigere Rolle spielen?

In einem Projekt mit meinem Doktoranden Robert John untersuchen wir die Prozesse der Inwertsetzung und Vermarktung von Sand in Kambodscha. Bei einer Ressource wie Sand, die in großen Gebieten auf der Erdoberfläche vorkommt und ein hohes Gewicht und Volumen hat, finden sich ganz andere Mechanismen des Abbaus und der Vermarktung als bei einer Ressource wie Diamanten, die an wenigen Stellen unter der Erde zu finden, klein und wertvoll ist: Die Materialität dessen, was man abbaut und vermarktet, hat große Auswirkungen darauf, welche Möglichkeiten und Grenzen des Handels sich ergeben und welche ökologischen Schäden und sozialen Konflikte damit zusammenhängen. Beim Sandabbau zum Beispiel werden vor allem Fließgewässer und Küsten geschädigt, was unter anderem zur Zerstörung von Fischbeständen führt – und dies hat wiederum soziale Folgen.

Klimawandel, Mobilität, die Rückkehr des Wolfs: Die „Neue Kulturgeographie“ nimmt das Schnittfeld von Umwelt und gesellschaftlicher Entwicklung in den Blick.
Fotos: piyaset/Fotolia, Jürgen Gocke, hkuchera/Fotolia

Welche neuen Themenfelder entstehen also mit dem Wandel in der Disziplin?

Die „Neue Kulturgeographie“ nimmt das Schnittfeld von Umwelt und gesellschaftlicher Entwicklung in den Blick. Bei unserer Konferenz haben wir uns unter anderem mit den Themen Klimawandel, Umweltdegradation, Überfischung oder Rückkehr des Wolfs befasst. Es geht auch um die Frage, wie die materielle Infrastruktur gesellschaftliche Veränderungen prägt – etwa bei der Energiewende, Digitalisierung oder Mobilität. Hinzu kommt der Einfluss sozialer Medien auf politisch-geographische Prozesse und vielerlei mehr.

Verschwimmen da nicht die Grenzen zu anderen Disziplinen?

Die Abgrenzungen sind insgesamt nicht mehr so klar, wie sie früher einmal waren. Gleichwohl ist eine Form von Raumbezug in all diesen geographischen Arbeiten immer dabei, nur geht es eben oft um den konstruierten Raum. Einer meiner Mitarbeiter, Tobias Schopper, beschäftigt sich beispielsweise mit der Frage, welche Raumvorstellungen neue, extrem rechte Bewegungen im Internet verbreiten und wie diese Vorstellungen zum Ein- oder Ausschluss von Migrationsbewegungen beitragen.

Welche Impulse haben Sie aus der Tagung mitgenommen?

Eine wichtige Frage hat unser Keynote Speaker Noel Castree thematisiert: Was kann in der heutigen Zeit die Rolle der Kulturgeographie sein? Meines Erachtens liegt ihr Wert darin, dass sie reflektierter als andere Sozialwissenschaften über Raum und Materialität nachdenkt. In vielen Disziplinen gab es zwar eine Hinwendung zum Thema Raum, aber nicht die jahrzehntelange, kritische Auseinandersetzung mit Raumkonzepten und naturdeterministischen Vorstellungen, denen zufolge die biophysikalische Beschaffenheit einer Region die soziokulturelle Entwicklung vorherbestimmt. Wichtig ist, dass man die materielle Umwelt in sozialwissenschaftliche Analysen einbezieht, aber dabei nicht in platte Kausalitäten zurückverfällt, sondern natürliche und gesellschaftliche Faktoren im Wechselspiel betrachtet.

Ist Naturdeterminismus nicht sogar ein Vorbehalt, den andere Disziplinen gegenüber der Geographie haben?

Nicht wirklich, die meisten haben eher keine Ahnung, was Geographinnen und Geographen tun. Meinem Gefühl nach ist das Bild von der Geographie ganz freundlich, aber in vielerlei Hinsicht auch undifferenziert – eher die Vorstellung von einer Stadt-Land-Fluss-Schulgeographie. 

Könnte sich das Profil schärfen, indem die Geographie verstärkt in die Gesellschaft hineinwirkt?

Sicherlich. Es gab in den vergangenen Jahren immer wieder öffentlichkeitswirksame Versuche, die Geographie stärker ins Blickfeld zu rücken – beispielsweise hat die Internationale Geographische Union 2016 zum „International Year of Global Understanding“ ausgerufen. Mehr und mehr Geographen sind in politikberatenden Gremien wie dem „Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen“ vertreten oder oft in Funk und Fernsehen unterwegs. Hier vor Ort ist kürzlich die Reihe „Freiburger Umweltgespräche“ der Stadt Freiburg und der Fakultät für Umwelt und Natürliche Ressourcen angelaufen, an der sich die Geographie beteiligt. Ich hoffe, dass sich solche Aktivitäten weiter verstärken.

Programmheft zur Tagung „Neue Kulturgeographie 15“ mit Abstracts