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Sucht nach Rezept

Schmerzmittel mit Opioiden können in kürzester Zeit abhängig machen und erfordern aus Expertensicht eine bessere Aufklärung von Ärzten, Apothekern und Patienten

Freiburg, 09.12.2019

Vom Erstrezept bis zur Sucht in nur drei Wochen? Möglich ist das bei Schmerzmitteln, die Opioide enthalten. Das Fatale: Seit der Jahrtausendwende verschreiben Ärztinnen und Ärzte in den USA solche Medikamente verstärkt auch bei relativ geringen Schmerzen. Die Zahl der Betroffenen, die von Opioiden abhängig sind, ist seitdem drastisch gestiegen und hat zu einer Drogenepidemie geführt, die ganze Landstriche in den USA erfasst hat und in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Judith Burggrabe hat mit Prof. Dr. Michael Müller vom Institut für Pharmazeutische Wissenschaften der Universität Freiburg über die Gefahren von opioidhaltigen Medikamenten gesprochen.


Einen gewissen Schutz vor Sucht bietet der von der Weltgesundheitsorganisation erarbeitete Stufenplan, nach dem bestimmte Medikamente verschrieben werden sollen. Foto: Alexander Raths/stock.adobe.com

Herr Müller, wäre eine solche Suchtkrise wie in den USA auch in Deutschland möglich?

Michael Müller: Ja, in einem abgeschwächten Ausmaß. Die Gefahr, von Schmerzmitteln abhängig zu werden, ist auch in Deutschland gegeben, insbesondere weil bestimmte opioidhaltige Medikamente vermehrt verschrieben werden. Ich denke zwar nicht, dass es so drastisch wie in den USA wird, wo Überdosierungen infolge von Drogen, zu denen auch manche Opioide gehören, inzwischen zur häufigsten Todesursache der unter 50-Jährigen zählen, aber das Risiko ist nicht zu unterschätzen.

Welche Substanz ist das, die so schnell abhängig macht?

Es betrifft viele Opioide, vorrangig geht es aber um Oxycodon. Es wurde Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland entwickelt und soll im Zweiten Weltkrieg zur Schmerztherapie benutzt worden sein. Anfang der 1990er Jahre wurde Oxcycodon in Deutschland aufgrund seines hohen Abhängigkeitspotenzials verboten, einige Jahre später jedoch in einer neuen Formulierung wieder auf den Markt gebracht. Auch in den USA, wo es zudem aggressiv beworben wurde. Nicht grundlos, denn als Schmerzmittel ist es, richtig angewandt, ein sehr wirkungsvolles Medikament bei Therapien. Ähnlich wie das synthetische Opioid Fentanyl, das unter anderem in der Anästhesie eingesetzt wird.

Wieso konnte die Situation in den USA so aus dem Ruder laufen?

In den USA herrscht eine ganz andere Sichtweise auf das Thema Schmerztherapie als in Deutschland. Die moderne Medizin gilt in den USA als Heilsversprecher, die es erlaubt, schmerzfrei zu sein. In Deutschland sind wir anders geprägt. Die Kirche zum Beispiel hat über Jahrhunderte propagiert, dass wir durch unsere Schmerzen am Leid Christi teilhaben. Außerdem war und ist die Sorge vor einer Abhängigkeit sowohl für Ärztinnen und Ärzte als auch für Patientinnen und Patienten immer noch groß. Diese Haltung hat dazu geführt, dass Deutschland bis vor wenigen Jahrzehnten sogar unterversorgt war, was Schmerzmittel angeht.


Michael Müller warnt vor hohem Suchtpotenzial: „Die Gefahr, von Schmerzmitteln abhängig zu werden, ist auch in Deutschland gegeben, insbesondere weil bestimmte opioidhaltige Medikamente vermehrt verschrieben werden.“ Foto: Thomas Kunz

Wie können sich Laien schützen?

Patienten sind in diesem Fall auf den Ratschlag ihrer Ärzte oder Apothekerinnen und Apotheker angewiesen. Sagen die nicht nach zwei bis drei Wochen ‚Stopp‘, gerät der Patient möglicherweise in eine Abhängigkeit. Einen gewissen Schutz bietet der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erarbeitete Stufenplan, nach dem bestimmte Medikamente verschrieben werden. Bei einfachen Schmerzen im Rücken oder nach einer Zahnbehandlung sollten keine Arzneien mit Opioiden verschrieben werden.

Was lässt sich dann tun? Ärzte und Apotheker besser aufklären?

Ich zum Beispiel halte innerhalb und außerhalb der Universität sowie an Schulen Vorträge, um über die Gefahren, die von neuen synthetischen Substanzen ausgehen, aufzuklären. Gerade Jugendliche sind gefährdet, weil sie sich gern ausprobieren und ihre Grenzen testen möchten. Patienten haben eine andere Sichtweise, sie möchten schmerzfrei sein. Deshalb sollte vor dem hohen Suchtpotenzial gewarnt werden.

Sucht also als eine mögliche Nebenwirkung?

Genau. Ähnlich wie in den Beipackzetteln vor bestimmten Wechselwirkungen gewarnt wird, muss auch das Thema Abhängigkeit als Nebenwirkung mehr im Bewusstsein von Ärzten, Apothekern und Patienten verankert werden.

Wie lässt sich das Problem lösen?

Rein pharmakologisch lässt es sich nicht in den Griff kriegen. Auch nicht mit schärferen Gesetzen. Es ist ein gesellschaftliches Problem. Opioide als Form von Drogen sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Deshalb ist es wichtig, das Problem offen und transparent anzusprechen und es als gesellschaftliche Herausforderung anzunehmen und anzugehen.