„So einen Unsinn sollten wir nicht im Grundgesetz haben“
Freiburg, 29.06.2020
Unter dem Eindruck der jüngsten Demonstrationen gegen Rassismus in den USA und in vielen europäischen Ländern und der mit neuem Selbstbewusstsein vorgetragenen völkischen Weltanschauungen in Deutschland ist eine Formulierung in Artikel 3 des Grundgesetzes in den Fokus gerückt. Dort heißt es: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Aber Menschenrassen gibt es nicht, betont die moderne Forschung. Sollte man das Wort dann nicht streichen? Jürgen Reuß hat bei der Freiburger Wissenschaftshistorikerin Prof. Dr. Veronika Lipphardt nachgefragt, die sich intensiv mit genetischen Zuordnungen in der Geschichte, aber auch in der heutigen Forschung und Forensik beschäftigt.
Die Verteilung von genetischer Vielfalt ist komplex – die Hautfarbe einer Person als Garant für ihre Abstammung zu deuten führt in die Irre. Foto: Monika/stock.adobe.com
Frau Lipphardt, Sie sind dafür, den Begriff „Rasse“ aus dem Grundgesetz zu streichen. Warum?
Veronika Lipphardt: Weil er zwischen all den anderen Begriffen so klingt, als ob es Rassen tatsächlich gäbe. Gibt es aber nicht. Die Verteilung von genetischen Variationen ist sehr komplex, sehr vielschichtig und lässt sich nicht so sortieren wie es der Begriff „Rasse“ vorgibt. Das weiß die Wissenschaft spätestens seit den 1990er Jahren. Aber diese Erkenntnis lief lange Zeit in der Wissenschaft und auch im öffentlichen Bewusstsein noch parallel zu der Vorstellung, dass eine Einteilung in Rassen prinzipiell möglich wäre. Und auch heute gibt es noch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die meinen, dass es bei der Kritik am Begriff „Rasse“ nur um so ein Political-Correctness-Ding gehe, Rassen seien doch offensichtlich.
Aber ich sehe doch Rassenunterschiede.
Äußerlich erkennbar ist nur ein ganz kleiner Teil der genetischen Variation, weil nur wenige der Variationen etwas kodieren, das mit dem Aussehen zu tun hat. Abgesehen davon ist der bei weitem größte Teil des Genoms bei allen Menschen identisch. Was Sie sehen und zu erkennen glauben, sind nur die Fälle, die eindeutig scheinen. All die anderen, die nicht so eindeutig sind, haben Sie dann offenbar übersehen. Wir begegnen jeden Tag extrem vielen Menschen, die wir überhaupt nicht zuordnen können oder die wir völlig überzeugt, aber komplett falsch zuordnen würden.
Wie ist so ein unsinniger Begriff dann überhaupt ins Grundgesetz geraten?
Die Geschichte dieses Begriffs und der entsprechenden Klassifikation reicht weit bis in die Aufklärung zurück. Seither sind sie tief in der europäischen Kultur verankert. Um 1945 stand für viele Wissenschaftler weltweit, auch für antirassistisch gesonnene, noch außer Frage, dass es drei oder vier Menschenrassen gebe. Die Möglichkeit, anders darüber zu sprechen, hat sich nur zögerlich im späten 20. Jahrhundert herausgebildet. Heute stehen uns aber andere Begriffe zur Verfügung – etwa genetische Vielfalt oder genetische Variationen.
Aber sind die Kontinente denn keine gute Richtschnur für eine Einteilung?
Wo sollte beispielsweise eine Trennlinie zwischen Asien und Europa verlaufen? Geografisch gibt’s da keine. Und der Austausch im Mittelmeerraum war so groß, dass Bewohnerinnen und Bewohner rund ums Mittelmeer kaum zweifelsfrei genetisch unterscheidbar sind. Oder denken Sie an Südamerika. Milliarden Menschen lassen sich also nach dem herkömmlichen Muster nicht zuordnen.
Die Wissenschaftshistorikerin Veronika Lipphardt plädiert dafür, den Begriff „Rasse“ im Grundgesetz durch das Wort „Aussehen“ zu ersetzen. Foto: Klaus Polkowski
War es für die Zeit, in der das Grundgesetz geschrieben wurde, aber nicht eine kluge Idee, die kursierende Rassentheorie aufzugreifen und ausdrücklich als Einflussfaktor auf die Rechtsprechung auszuschließen?
Die Absicht des Grundgesetzes war antirassistisch, das steht für mich außer Frage. Aber heute suggeriert der Begriff, dass der Gesetzgeber immer noch der Meinung sei, dass es tatsächlich Rassen gäbe. Das war schon damals umstritten. Es gibt dazu zwei interessante UNESCO-Statements. Das erste von 1950, überwiegend von Geistes- und Sozialwissenschaftlern formuliert, besagt, dass „Rassen“ und vermeintlich damit zusammenhängende geistige Unterschiede nur ein Mythos seien. Ein starkes Statement gegen Rassismus. 1951 publizierten Naturwissenschaftler ein zweites Statement, das auf dem Begriff der Rasse beharrte. Entscheidend sei nur, wie man damit umgehe, um Rassismus einen Riegel vorzuschieben. Heute rechtfertigt der Stand der Wissenschaft die Feststellung, dass die Einteilung der Menschheit in Rassen Unsinn ist. Deswegen ist klar: So einen Unsinn sollten wir nicht im Grundgesetz haben.
Menschen mögen einfache Weltbilder. Ich sehe doch, die ist schwarz, der ist weiß.
Weil es scheinbar so offensichtlich ist. Aber nehmen wir den Regenbogen. Welche Farben hat der? Die meisten sagen Blau, Grün, Gelb, Rot. Aber das stimmt nur, solange man genau eine Probe aus der Mitte jedes dieser Farbstreifen nimmt. Nehme ich 20 Proben, gut verteilt, bekomme ich 20 Farben. Und die Verteilung genetischer Variation bei Menschen ist viel komplexer als die Farbstruktur des Regenbogens. Das nächste Argument ist immer: Bei den Tieren gibt es doch auch Rassen. Ein britischer Kollege hat mich mal irritiert gefragt, weshalb an einem Hundesalon in Berlin stand: „Alle Rassen“. Im Englischen würde man für Hunderassen niemals das Wort „race“ benutzen. Der Begriff ist dort für Menschen reserviert. Bei Tieren heißt es „breed“, weil es einen Prozess des Züchtens voraussetzt.
Ohne Zucht gibt es also auch nicht die gewünschte Hunde-„Breed“.
Genau. Jede Hundezüchterin und jeder Hundezüchter weiß, dass eine so genannte Rasse nur ein unter Aufwand betriebenes Vermeiden von Varietäten ist. Bei Wildtieren finden Sie genau das, eine „rasselose“ Vielzahl von Varietäten. Es führt ganz oft zu Missverständnissen, dass man den amerikanischen Begriff „race“ mit dem deutschen Begriff „Rasse“ gleichsetzt. Aber das sind zwei komplett unterschiedliche Begriffe. In Nordamerika wird der Begriff so verwendet, dass er soziale Gruppen beschreibt, die unter ähnlichen Diskriminierungsmustern leiden. Oft ist eine Übersetzung mit „Minderheiten“ angebracht.
Eine Variante ist auch das Hantieren mit dem Begriff „Ethnie“. Wie bewerten sie das?
Nimmt man Ethnie nur als Ersatzbegriff für Rasse, und das Konzept bleibt gleich, ist das reines Blendwerk. Das ist ausgerechnet in der Genetik leider oft der Fall. Wenn man damit, ähnlich wie im englischsprachigen Raum, zum Ausdruck bringen möchte, dass man etwas Komplexes meint, was sich eben nicht auf eine gemeinsame Abstammung reduzieren lässt, ist der Begriff bedenkenswert. Der wichtigste Punkt ist die Selbstzuschreibung. In den USA dienen die Begriff Ethnie und race dazu, sich selbst einer Gruppierung zuzuordnen. In Deutschland gibt es diese Art der Selbstzuordnung nicht.
Gibt es eine Alternative für Rasse, mit der Sie sich anfreunden könnten?
Sie meinen fürs Grundgesetz? Man könnte zum Beispiel einfach „Aussehen“ schreiben. Die vielen derzeit kursierenden Vorschläge für Ersatzbegriffe sollte man mal gründlich und interdisziplinär prüfen, auch im Kontext der anderen Begriffe. Davon würde der Grundgesetzestext profitieren.