Shift der Erzählformen
Freiburg, 02.08.2019
Wer Literatur studiert, weiß, dass die Narratologie nach wie vor von ihren strukturalistischen Anfängen geprägt ist: Die bisherige Erzählforschung steht in der Tradition des französischen Literaturwissenschaftlers Gérard Genette und ist eine synchrone Disziplin mit dem Anspruch auf Einheit ihrer Kategorien – dazu gehört zum Beispiel die Erzählperspektive. Die Freiburger Anglistin Prof. Dr. Monika Fludernik will das gängige Modell erweitern. Als erste Literaturwissenschaftlerin in Deutschland hat sie ein Reinhart Koselleck-Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft eingeworben, das mit einer Million Euro dotiert ist. Mit dem Vorhaben „Narratologie diachron“ will Fludernik am Beispiel der englischen Literatur nicht nur den Weg für geschichtliche Erkenntnisse in die Erzählforschung ebnen, sondern auch die Narratologie für eine epochenübergreifende – eben diachrone – Betrachtung öffnen.
Geschichten zu erzählen ist eine grundlegende Form menschlicher Kommunikation – in der Literatur findet sie ihre Entsprechung in der Epik. Foto: Africa Studio/stock.adobe.com
Erzählen ist eine elementare Form menschlicher Kommunikation. In der Literatur hat sie ihre Entsprechung in der Epik. Jemand erzählt eine Geschichte: Sei es so abendfüllend, wie man es sich von Homer, dem angeblich blinden Rhapsoden und Stammvater der abendländischen Literatur, vorstellt; sei es in der Kurzform einer Anekdote, wie sie etwa Heinrich von Kleist verfasste. Noch knapper sind meist die Witze, die Otto Normalverbraucher im Alltag zum Besten gibt. Und die Psychologie weiß, dass bereits das bloße Erzählen von einer mit Konflikten behafteten Situation den seelischen Heilungsprozess befördern kann.
Die in den 1950er Jahren wissenschaftlich begründete Erzähltheorie legte den Fokus von Anbeginn auf konstitutive Elemente wie Erzählzeit oder Erzählperspektive. Zugleich richtete sie ihr Augenmerk auf eine vergleichende Betrachtung von Literatur im synchronen Querschnitt. Dabei gerieten geschichtlich variierende Erzählformen aus dem Blick. Diesen blinden Fleck der Erzähltheorie möchte Monika Fludernik beseitigen.
Ein historisch großer Bogen
Das Vorhaben verfolgt zwei Ziele. Zum einen soll eine Studie Entwicklungen des Erzählens in verschiedenen Gattungen vergleichen. Dabei werden Texte vom Spätmittelalter und der frühen Neuzeit bis zum 18. Jahrhundert untersucht. Zum anderen will Fludernik in einer Monografie einen großen Bogen vom Spätmittelalter bis ins 19. Jahrhundert spannen und den Wandel von Erzählformen per se analysieren, wobei zugleich theoretische und methodische Reflexionen zum Tragen kommen werden. „Ich bin Anglistin, aber ich werde auch deutsche und französische Texte einbeziehen“, führt die Forscherin aus. „Vor allem jedoch möchte ich am Beispiel der englischen Literatur durchexerzieren, wie eine diachrone Betrachtung von Erzählliteratur aussehen könnte.“ Diese Arbeit will sie zum Teil auf mehrere Forschungssemester verteilt bewältigen. Auch Tagungen und Gastprofessuren sind eingeplant.
Der Mann mit der Leier: Homer gilt als Stammvater der abendländischen Literatur. Foto: Michael Spiegelhalter
Fluderniks Herangehensweise ist vor allem linguistisch. „Es geht beispielsweise um die Häufigkeit von Pronomina in Texten oder den Gebrauch eines bestimmten Tempus.“ Gleichzeitig sollen auch historische Erkenntnisse eine Rolle spielen: „Wenn sich etwa ein Shift von einer Textform zu einer anderen beobachten lässt, kann man schon fragen, warum das so ist“, sagt sie. „Die Stuarts zum Beispiel brachten nach ihrer Wiedereinsetzung in England ihre Erfahrungen am französischen Hof mit nach London: etwa das Vorbild französischer Theaterklassiker oder die Freiheit für Frauen, als Schauspielerinnen aufzutreten.“ Solche Einflüsse könne es auch bei Prosatexten geben. Plötzlich spielte beispielsweise auch in England der heroische französische Roman eine Rolle.
Heiligenlegenden und Romanzen
Gibt es schon die eine oder andere Arbeitshypothese? Bei ihren Vorarbeiten sind Fludernik einige Brüche bei Textelementen aufgefallen, die sich zwar in der Form erhalten haben, aber in ihrer Funktion veränderten. Als Beispiel führt sie das Inzidenzschema an. Ursprünglich hatte es die Aufgabe, mitten in einer Erzählepisode eine unerwartete Wendung einzuführen. „Mit dem Wandel der Erzählformen hin zum Roman verliert es diese Funktion, aber es verschwindet nicht einfach, sondern kehrt am Beginn von größeren Erzähleinheiten wie einem neuen Kapitel wieder, womöglich verbunden mit einem Schauplatzwechsel, als Einstieg in die nächste größere Handlungseinheit.“ Zudem hat Fludernik beobachtet, dass Erzählelemente, die sich in Heiligenlegenden bis ins 15. Jahrhundert erhielten, in der Romanze bereits im 14. Jahrhundert verschwanden. Auf solche Spielarten des asynchronen Wandels von Erzählformen will sie ein besonderes Augenmerk legen: „Die eine Gattung dient als Vorreiter, andere folgen nach.“
Die Wirkungsmacht des Wandels ist schließlich auch der zentrale Bezugspunkt zum Namensgeber des Projekts, dessen Werk Monika Fludernik ungemein schätzt: Der berühmte Historiker Reinhart Koselleck untersuchte, wie sich Begriffe im Gang durch die Zeit veränderten.
Hans-Dieter Fronz