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Rhetorik der Regierungsspitzen

Welche Sprechweise die Mächtigen für das Führen ihrer Amtsgeschäfte wählen, verrät oft mehr über sie als das, was sie sagen

Freiburg, 29.04.2020

Rhetorik der Regierungsspitzen

Foto: kopitinphoto/stock.adobe.com

Wladimir Putin setzt seine Macht visuell am liebsten mit nacktem Oberkörper als durchtrainierter Machokämpfer in Szene – zumindest legen das die vielen Fotos nahe, die in den Medien vom Präsidenten Russlands zu sehen sind. Aber gibt es auch eine entsprechende akustische Inszenierung von Macht und Dominanz? Der Freiburger Historiker und Kommunikationswissenschaftler Dr. Dmitri Zakharine hört genau hin, welche Sprechweise die Mächtigen für das Führen ihrer Amtsgeschäfte wählen. Im Interview mit Jürgen Reuß berichtet Zakharine, warum Arbeitsagenturen ihre Kundschaft so gerne zu Sprachtrainings schicken, weshalb Putins Mafioso-Sprachstil das postsowjetische nationalstaatliche Ideal Russlands verkörpert und wie Angela Merkel mit ihrer mütterlichen Sprechart an die EU als Familiengemeinschaft appelliert.

Aggressive Rhetorik und Basta-Allüren: Gerhard Schröder und Wladimir Putin sind auf sprachlicher Ebene seelenverwandt. Foto: kopitinphoto/stock.adobe.com

Herr Zakharine, wie kamen Sie auf die Idee, sich mit der Sprache Putins zu beschäftigen?

Dmitri Zakharine: Die Stimme ist ein universeller Identifikator. Man kann über sie Herkunft, Alter, Geschlecht, aber auch die Emotionen der Sprechenden bestimmen. Das spielt im politischen Bereich eine große Rolle.

Sie untersuchen also weniger den Inhalt als die akustischen Eigenschaften einer Rede?

Die Inhalte werden natürlich auch einbezogen. Aber mir geht es tatsächlich vor allem um den Tonfall, die Intonation, den akustischen und linguistischen Bereich. In der Praxis ist dieser Teil viel aussagekräftiger als der inhaltliche Bereich.

Kennen Sie eigentlich Professor Henry Higgins aus dem Musical „My Fair Lady“?

Natürlich.

Und glauben Sie wie Higgins, dass sich der Mensch vor allem über seine Sprache definiert?

Heutzutage ist Sprachtraining, inklusive Abgewöhnen des Dialekts, ein essenzieller Teil von Umschulungen: Jemand konstruierte einst Zahnprothesen, hat dann den Job verloren, einen Kurs im Sprachtraining absolviert, und jetzt verdient er das Doppelte im Vertrieb, wo er Zahnprothesen verkauft. Das ist das Konzept von Arbeitsagenturen. Mindestens 60 Prozent ihrer Angebote beinhalten Sprachtraining.

Könnten Sie also aus einem Blumenmädchen wie Eliza Doolittle eine zweite Margaret Thatcher machen?

Margaret Thatcher hatte tatsächlich ihre Sprechweise trainiert und zwar sehr lange, um nicht wie Eliza Doolittle zu klingen. Ich denke da an das berühmte Zitat: „But it is not asking the Community for money; it is asking the Community to have our own money back.” Diese tiefe Grundfrequenz und der Tonfall am Ende des Satzes, die wir von Thatcher im Ohr haben, ist ein Ergebnis dieser Übung. Aber ich mache so etwas nicht. Ich untersuche, was so ein Tonfall transportiert.

Das, was Charlie Chaplin in seiner lautmalerischen Rede als „Großer Diktator“ vorführt?

Ein gutes Beispiel. Die Nazis sprachen sehr pathetisch, aber aufgrund des damaligen Stands der Technik griffen sie auf ganz andere Redetechniken als Thatcher oder Putin zurück. Damals waren die Mikrofone nicht so empfindlich, und man setzte viel mehr Akzent auf die Tonhöhe. Konsonanten wurden auf die Distanz sehr schlecht rezipiert, weswegen geübte Redner der damaligen Zeit sofort in die Höhe gingen, in den Obertonbereich von 5.000 bis 8.000 Hertz, und darauf achteten, die Vokale zu dehnen. Ganz anders bei Putin, der zwar ein ähnliches Projekt des Nationalstaates verfolgt, sich gleichzeitig aber stark von den Stimmen nationalsozialistischer Redner wie Joseph Goebbels oder Adolf Hitler unterscheidet. Bei Putin fallen eher der häufige Gebrauch von plosiven Konsonanten wie „p“ und die extreme Konsonantendehnung auf. Seine Redenschreiber achten darauf, dass dies vermehrt zum Einsatz kommt. Putin ist der erste Staatsleiter im postsowjetischen Reich, der seine Stimmlage kalkuliert einsetzt.

Können Sie das etwas ausführen?

Nach 1991 erfindet sich der russische Staat neu, und es werden neue Redner auf den Plan gerufen. Boris Jelzin stand noch sehr in der Tradition der alten Sowjetunion, erst Putin ist die Verkörperung des neuen nationalstaatlichen Projekts. Im Vergleich zu Michail Gorbatschow oder Nikita Chruschtschow spricht er sehr ruhig, in einem sehr kleinen Spektrum von 80 bis 170 Hertz, um zu betonen, dass er nie die Fassung verliert. Er kommt aus dem KGB, der Staatssicherheit, da musste man nicht viel reden. Für seine Karriere wichtig war sein Judotrainer, der als bekannter Krimineller auch mehrfach im Gefängnis saß. In diesem Milieu ist Putin aufgewachsen. Als er 2001 Nachfolger Jelzins wurde, versuchte er aus all dem eine Sprechweise zu entwickeln, die den Erwartungen der Zuhörerinnen und Zuhörer entsprach und nach außen einen etwas überreizten, streitsüchtigen Ton vermittelt.

Herkunft, Alter, Geschlecht, Emotionen: Die Stimme verrate eine Menge über den Menschen, betont Dmitri Zakharine. Foto: Patrick Seeger

Russland hat damals erwartet, dass das Staatsoberhaupt wie ein Mafia-Pate spricht?

Das sehen Sie sehr richtig. Der Staat lag in Trümmern. Was auf dem Markt noch zu verkaufen war, war der Körper. Es kommt in den 1990er Jahren zum massiven Anstieg der Prostitution, und auf Männerseite der Security, rekrutiert aus halbkriminellen jungen Männern. Jeder dritte war in der Security tätig und ist es noch. Über diese Leute werden die ganzen Geldtransfers abgewickelt. Das ist kein Geheimnis.

Der Staat war organisiert wie eine kriminelle Organisation, und deshalb musste das Staatsoberhaupt auch mit einem dementsprechenden Image auftreten?

Genau. Der Staat war so organisiert, und ist es teilweise noch immer. Die Schutzpatrone wie Polizei und Staatssicherheit sind immer noch am Ruder. Das ist die Klientel, deren Erwartungen Putin mit seiner Sprechweise erfüllt.

Wirkt Putin als Leitbild auch auf die Gesellschaft zurück?

Teil meiner Forschung ist, herauszufinden, welcher Anteil der Eliten versucht, ihn zu kopieren. Dazu gehören Ex-Premier Dmitri Medwedew und sein Nachfolger Michail Mischustin. Die Hälfte der Regierung orientiert sich an Putins Sprechweise, sehr sachlich, mit abgehackten Vokalen, gedehnten Konsonanten, mit dem Tonfall am Ende des Satzes. Eine Art Basta-Stil: „Ich habe es gesagt. So wird es sein.“

Wie würden Sie dagegen Angela Merkels Sprechweise beschreiben?

Deutschland ist kein nationalstaatliches Projekt mehr. Deswegen hat Merkel eine ganz andere Tonlage. Die EU-Staatengemeinschaft inszeniert sich zunehmend als eine Familiengemeinschaft. Die aggressive Rhetorik entspricht einfach nicht mehr dem Zeitgeist in Deutschland.

Hat Merkel ihre Sprechweise auch trainiert?

Bei Politikerinnen und Politikern ist es immer zum großen Teil eingeübt. Die Aussprache ergibt sich aus den Erwartungen der Zuhörer. Sie vertritt nicht mehr nur die Deutschen, sondern wie die Queen viele Völker. Daraus ergeben sich auch andere Intonationen. Sie spricht einerseits tief, wie die Frauen in der Führung, aber trotzdem mit der Dehnung der Vokale in fast schon häuslicher Intonation. Sie hat etwas Behauchtes, wenn die Luft so gerade noch durch die Stimmritze durchsickert, und betont so das Mütterliche.

Gerhard Schröders Basta-Allüren waren da noch ganz anders, schon sprachlich näher bei Putin?

Zweifelsohne waren sie irgendwie seelenverwandt, nicht nur im Hinblick auf ihre Sprechweisen. Auch Schröder gerierte sich als ein Macher, als „Genosse der Bosse“. So macht das Putin auch. Wir wissen, wo Gerhard Schröder jetzt sitzt.

Mit Schröder und Putin haben sich auf sprachlicher Ebene zwei Mafiosi der alten Schule getroffen?

Genau. Das hat letztlich Schröder auch unbeliebt gemacht. Friedrich Merz probiert es gerade auch mit dieser Sprechweise. Aber er kommt nicht durch. Nicht wegen dem, was er sagt, sondern wegen der Art, wie er es sagt.

Welche Sprechweise wird denn in Deutschland die nächste Kanzlerin oder den nächsten Kanzler stellen?

Ich bin kein Orakel, aber ich tippe eher auf einen weiterhin ruhigen Stil wie bei Merkel, nur etwas jünger, vielleicht wie Sebastian Kurz.