Netz der Seidenstraßen
Freiburg, 22.03.2021
Die frühere Vorstellung, Karawanen hätten Luxusartikel über eine lange Handelsroute von China direkt bis nach Rom transportiert, um sie dort teuer zu verkaufen, ist ein Mythos. Ein Forschungsprojekt der Historikerin Prof. Dr. Sitta von Reden vom Seminar für Alte Geschichte wirft einen genauen Blick auf das, was im 19. Jahrhundert als „Seidenstraße“ bekannt wurde: ein komplexes Netz von Austauschprozessen, das große Teile des asiatischen und europäischen Kontinents überspannte.
Jenseits der Seidenstraße: Forschende untersuchen, wie die Wirtschaft in den Jahren zwischen 300 vor und 300 nach Christus in allen Regionen zwischen China und Rom funktionierte. Foto: Wang/stock.adobe.com
Zur Zeit des Römischen Reichs flossen Waren in großer Zahl von China nach Rom, um die dortige Elite zu versorgen – vor allem mit Seide und weiteren Luxusgütern. Was immer schon bekannt war, erforschte der Geograf Ferdinand von Richthofen 1877 unter dem Namen „Seidenstraße“. Er rekonstruierte mithilfe antiker Quellen die Wege, über die die Waren von der früheren chinesischen Hauptstadt Chang’an bis nach Rom gelangten: über die Taklamakan-Wüste und das Pamirgebirge nach Zentralasien und in die Levante, dann über Kleinasien und die östliche Mittelmeerküste. „Es handelt sich bei der ‚Seidenstraße‘ um ein koloniales Konzept“, erklärt Sitta von Reden. „Eine für von Richthofen mitschwingende Frage war, wie man China als Kolonialreich erschließen kann.“ Dem lag die Vorstellung zugrunde, dass der Mittelmeerraum in einem ökonomischen Abhängigkeitsverhältnis zu China stand: In Rom bestand Nachfrage nach Seide, China lieferte sie. „Auch typisch kolonial: Die ganzen Zwischenräume – die Steppe, der Iran und andere riesige Gebiete – bleiben in dieser Darstellung im Dunkeln“, ergänzt die Historikerin. „Von Richthofen interessiert nur das chinesische und das Römische Reich. Alle anderen Zivilisationen sieht er nur als Transitzonen.“
Jenseits der Seidenstraße
Von Redens Forschungsprojekt möchte die Straßenmetapher überwinden und die Handelsverbindungen als ein Netzwerk von Tauschsystemen betrachten. „Die ‚Seidenstraße‘ ist zu einfach gedacht“, erklärt von Reden. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schreiben den Begriff daher heute immer in Anführungszeichen. „Unsere Frage war: Was erzählt man alternativ? Wie war es wirklich?“, sagt die Freiburger Forscherin. Der Name ihres vom Europäischen Forschungsrat geförderten Projekts – „Jenseits der Seidenstraße“ – ist daher bewusst gewählt, denn es beschäftigt sich eben nicht nur mit der klassischen „Seidenstraße“, sondern auch mit all dem, was noch dazugehört. Von Redens Team untersucht, wie die Wirtschaft in den Jahren zwischen 300 vor und 300 nach Christus in den verschiedenen Gebieten funktionierte. Der Fokus liegt dabei auf der Erforschung von interimperialen Grenzregionen, also Regionen, die sich nie dauerhaft dem einen oder dem anderen Imperium zugehörig fühlten.
„Jenseits der Seidenstraße“ läuft fünf Jahre und ist das erste Projekt, das den gesamten eurasischen Raum zur Zeit der Antike interdisziplinär zu überblicken versucht. In von Redens Team arbeiten Spezialistinnen und Spezialisten für die verschiedenen Regionen eng zusammen: eine Sinologin, eine Archäologin mit dem Schwerpunkt Zentralasien, eine Anthropologin, die für den mittelasiatischen Raum zuständig ist, eine Historikerin, die sich auf den Ostmittelmeerraum spezialisiert hat, ein Historiker mit einem Fokus auf der römischen Perspektive und eine Indologin. Das tägliche Zusammenspiel von sechs Fachrichtungen ist eine methodische Besonderheit. „Die Geschichte der ‚Seidenstraße‘ haben bisher einzelne Wissenschaftler geschrieben, die entweder griechisch-römische Althistoriker sind oder Sinologen“, sagt von Reden. „Beide können den Raum aber gar nicht überblicken, da ihnen die fachliche Expertise dazu fehlt. Ich kann zwar die Forschungsliteratur über China lesen, aber das chinesische Quellenmaterial nicht interpretieren.“ Herauskommen soll bis 2022 ein dreibändiges Handbuch, das die Forschung fächerübergreifend zusammenfasst. Der erste Band behandelt die Quellen und die Geschichtsschreibung der einzelnen Gebiete. Im zweiten Band wird es darum gehen, wie die Wirtschaft in diesen Imperien jeweils funktionierte und wie Güter in die abgelegenen Grenzregionen kamen. Der dritte Band beschäftigt sich mit den Grenzzonen und den dortigen Austauschprozessen.
Textilien aus Seiden und Wolle wie diese Funde aus Westchina kamen als Waren in großer Zahl von China nach Rom, um die dortige Elite zu versorgen. Seiden und Wolle Textilien aus Sampul/Lop County/Xinjiang Abbildung: https://en.wikipedia.org/wiki/Sampul_tapestry
Diplomatischer Warenaustausch
Das Projekt möchte die Perspektive von den Metropolen zu den Grenzgebieten der Reiche verschieben. Die Annahme der Forschenden ist, dass die Grenzzonen die für Austauschprozesse zwischen Imperien zentralen Gebiete waren. China tauschte nicht deshalb Waren mit Zentralasien, weil in Rom Nachfrage danach bestand oder weil Menschen in Chang’an etwas verschiffen, transportieren oder verkaufen wollten. Letztlich waren immer die Austauschprozesse an den Grenzen entscheidend für die Frage, welche Güter sich von A nach B bewegten. Grund dafür, dass so viel Seide nach Rom gelangte, waren beispielsweise die Xiongnu-Hirtengesellschaften in der an China angrenzenden Steppe, erklärt von Reden. Damit sie nicht ins Land einfielen und Raubzüge unternahmen, forderten sie Tribute. Dazu gehörte auch Seide. Ballenweise Seide brachten die Chinesen den Khans – den Herrschern – der Xiongnu auf ihren diplomatischen Reisen mit, und die Xiongnu wiederum schenkten den Chinesen Pferde. Auch Frauen schenkte man in beide Richtungen. „Das war kein Handel, sondern ein diplomatischer Geschenkaustausch“, stellt von Reden klar: „Die Xiongnu bekamen so viel Seide, dass sie ganze Städte damit hätten ausrollen können. Das war ihnen aber nicht so wichtig.“ Sie schenkten sie weiter oder tauschten sie gegen andere Dinge ein, die sie gebrauchen konnten. Auf diese Weise kam die Seide nach Zentralasien und weiter in westliche Gebiete, und zwar in unterschiedlichen Formen des Austauschs – zum Teil durch Diplomatie, zum Teil durch Handel, zum Teil als Beute.
Solche Abläufe rekonstruieren die Wissenschaftler mithilfe schriftlicher und archäologischer Quellen. „Das macht unsere Forschung auf verschiedene Weisen herausfordernd. In Rom und China gab es Geschichtsschreibung. In anderen Bereichen ist die Quellenarbeit ein mühsamer Prozess“, erklärt von Reden. Ähnliches gilt für den Forschungsstand: Zur römischen Wirtschaft gibt es bereits sehr viel Literatur, die die Forscherinnen und Forscher einbeziehen müssen. „Hingegen hat bisher niemand wirtschaftliche Strukturen in Zentralasien untersucht, da der Bereich bisher als Transitzone auf der ‚Seidenstraße‘ galt. Dazu müssen wir zunächst grundlegende Forschung betreiben.“
Aufwertung von Grenzzonen
Auch wie die Güter überhaupt zu den Grenzzonen gelangten, untersuchen die Wissenschaftler in ihrem Projekt. „Wie kamen Händler mit ihren Kamelen durch unwegsames Gebiet? Das ist eine komplizierte Frage.“ Meistens sind Grenzregionen nicht besonders dicht besiedelt, liegen in den Bergen oder in der Wüste – deshalb sind es Grenzzonen. Während sich große Städte häufig in gut angeschlossenen und fruchtbaren Gebieten befinden, liegen Grenzzonen meistens in strukturschwachen Regionen. Das Projekt erforscht die Prozesse, die zur Bewegung von Gütern und zur Erschließung dieser Grenzgebiete führten. Die Wissenschaftler arbeiten mit der These der Reichsbildung: Wenn sich Imperien ausdehnten, kamen Truppen an die Grenzen. Dafür wurden die Grenzgebiete erschlossen: Routen wurden befestigt, Bauwerke für die Wasserversorgung und den Schutz der Durchreisenden errichtet. „Unser Projekt zeigt, dass die zentrale Voraussetzung für die Versorgung von Grenzgebieten veränderte Wirtschaftsstrukturen sind“, erläutert von Reden. „Um die Austauschprozesse auf der ‚Seidenstraße‘ im globalen Kontext zu verstehen, müssen wir daher Reichsbildung und Prozesse an den Grenzzonen verstehen.“ Ein Beispiel dafür ist die östliche Wüste am Roten Meer in Ägypten. „Das ist eine hochtrockene Zone, in der Menschen, die dort nicht geboren sind, nicht überleben können“, sagt von Reden. „Man kann keine Landwirtschaft und keine Viehzucht betreiben – es ist vor allen Dingen heiß.“ Nach der Eroberung Ägyptens durch Alexander den Großen bauten die Ptolemäer dort erstmals dauerhafte Hafenstädte, die sich aber nicht selbst versorgen konnten. Die Römer erschlossen dann die Wüste. Sie betrieben Bergbau und verbesserten die Infrastruktur, bauten Brunnen und Forts, in denen man sich unterwegs aufhalten konnte, und hielten sie instand. Soldaten schützten die Wege vor feindlichen Angriffen, Schiffe versorgten die Hafenstädte mit Lebensmitteln und anderen Gütern. Erst dieser besondere Schutz und die Verbesserung der Infrastruktur öffneten dem Handel in der östlichen Wüste die Türen. Es entwickelte sich ein Handelsverkehr von Südindien bis Ägypten und von dort aus nach Alexandria und Rom. Dadurch konnten große Reichtümer über verschiedene Stationen nach Rom gelangen, beispielsweise Elfenbein aus Afrika und Gewürze aus Arabien.
Indien und Ägypten liegen zwar abseits der Landwege der „Seidenstraße“, waren aber über das Meer ebenfalls an das asiatische Handels- oder Tauschnetz angebunden. Die Erschließung der östlichen Wüste war also notwendig, damit Handel überhaupt möglich wurde. Auch abseits der Grenzgebiete war die staatliche Förderung der Infrastruktur zentral für die Entstehung von Handel. So unterhielten in Kontinentalasien die Perser ein ausgebautes Straßennetz mit Wasserversorgung, Stationen und Meilensteinen. Grund dafür war nicht der Handel, sondern waren diplomatische Reisen des Königs, Truppenbewegungen, der Transport von Arbeitergruppen und die Versorgung von Garnisonen. Die Imperien pflegten die Infrastruktur aufgrund staatlicher Interessen, fasst von Reden zusammen: „Handel war nicht geplant, eher eine Begleiterscheinung. Der Handel konnte kommen, als die Infrastruktur da war.“
Sarah Schwarzkopf