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Myrrhe-Büschel zwischen den Brüsten

Warum die Verse des Hohelieds die jüdische Liebesliteratur über Jahrtausende prägten und weiterhin inspirieren

Freiburg, 08.01.2019

Es sind nur eine Handvoll romantische Verse aus längst vergangenen Zeiten. Trotzdem haben sie über Jahrtausende Schriftstellerinnen und Schriftsteller immer wieder beflügelt: Das „Hohelied“ wird dem alttestamentarischen König Salomo zugeschrieben – einem, der sich mit der Liebe auskannte. Schließlich soll er tausend Frauen bezirzt haben. Wieso wurde das Hohelied zu einem Schatzhaus der Liebesliteratur? Die Freiburger Judaistikprofessorin Gabrielle Oberhänsli-Widmer hat ein Buch darüber geschrieben. Im Gespräch mit Rimma Gerenstein erklärt sie, was Romane, Gedichte und religiöse Schriften über unterschiedliche jüdische Lebenswelten verraten.


Schweigen im Paradies: Das ultimative Liebespaar Adam und Eva zeigt der Schweizer Künstler Rainer Oberhänsli-Widmer als zwei Menschen, die sich nicht viel zu sagen haben. Quelle: Rainer Oberhänsli-Widmer

Frau Oberhänsli-Widmer, erinnern Sie sich noch daran, wann Sie zum ersten Mal das Hohelied gelesen haben?

Gabrielle Oberhänsli-Widmer: Ja, das habe ich sehr genau in Erinnerung. Mein Freund hat es mir damals aus der Bibliothek mitgebracht. Der wusste aber gar nicht, was das ist, und auch ich war ganz unbedarft und wusste nicht, dass es sich dabei um einen kanonischen Text handelt. Wir waren beide hin und weg. Ich glaube, so geht es allen, die es lesen. Es ist eine ganz archaische Erfahrung – vor allem, wenn Sie jung und verliebt sind.

Beim Lesen des Texts war ich erstaunt, auf welche Verse ich gestoßen bin: „Mein Freund ist mir ein Büschel Myrrhen, das zwischen meinen Brüsten hängt“, steht da etwa, oder: „Ich habe mein Kleid ausgezogen, wie soll ich es wieder anziehen?“

Ich weiß, worauf Sie anspielen. Sie wundern sich, dass solch ein erotischer Text in der Bibel enthalten ist?

Überraschend ist es doch schon.

Eigentlich nicht. Die Schönheit der Liebe, auch der körperlichen, wurde im Judentum nie verneint, und die biblischen Autoren waren zu der Zeit der Entstehung des Hohelieds überhaupt nicht verklemmt. Dass es später so rigide Regeln gab, die das sexuelle Leben ordnen sollten, hat mehr mit der Abgrenzung im Exil, mit dem Schützen der eigenen Gemeinschaft zu tun. Um Moral geht es dabei weniger.


Ein weiter Pool an Identitäten: Gabrielle Oberhänsli-Widmer schätzt die Bandbreite der jüdischen Liebesliteratur, die mehr als 2.000 Jahre umfasst und in unzähligen Sprachen geschrieben ist. Foto: Jürgen Gocke

Beginnt die jüdische Liebesliteratur mit dem Hohelied?

Ja und nein. Es ist sozusagen der ideologische Anfangspunkt, aber nicht der historische. Auch das biblische Israel gründet auf vorbiblischen Fundamenten. Für mich als Wissenschaftlerin ist es wichtig, die historische Linie nach hinten zu verlängern. Dann wird deutlich, dass auch das Hohelied auf andere Texte zurückgreift und sich aus altorientalischen und ägyptischen Liebesliedern speist. Wir schreiben ja alle weiter, niemand beginnt bei null. Das Hohelied ist für die gesamte europäische Literatur maßgeblich, so eine Art Liebesthesaurus, könnte man sagen. Und es zieht sich auch wie ein roter Faden durch die Texte, die ich untersucht habe.

Können Sie das an einem Beispiel verdeutlichen?

Der Vers „Lege mich wie ein Siegel an deinen Arm, denn stark wie der Tod ist die Liebe“ taucht immer wieder in unterschiedlichen Romanen und Gedichten verschiedener Epochen auf. Ursprünglich ist es als lebenslange Bindung an einen Partner gemeint, als eine ganz exklusive Beziehung, die jemanden vielleicht auch im negativen Sinne in Beschlag nehmen kann. In der späteren Rezeption haben jüdische Denker diesen Vers auch auf Gott ausgeweitet, obwohl er nur an einer Stelle im gesamten Hohelied genannt wird. Die Schriftstellerin Leah Goldberg, die viel über die Schrecken der Shoa schrieb, greift das Motiv in einem literarischen Liebesbrief auf. Dort verschmelzen der abweisende Geliebte Emanuel – wörtlich übersetzt: „Gott ist mit uns“ – und eine Gottesfigur. Ihr Gedicht lässt sich als ein deutlicher Abschied von der Liebe Gottes lesen.

Ein liebevoller Gott war nach der Shoa also nicht mehr denkbar?

Für Goldberg nicht, für manche andere aber umso mehr. Darin liegt ja auch der besondere Reiz der Liebesliteratur, zumindest der guten: Sie ist ein Spiegel ihrer jeweiligen Lebenswelten. Anhand von Liebenden konturieren die Autorinnen und Autoren nicht nur die Psyche und den Charakter eines Individuums, sondern auch die Denkstrukturen, Ideologien und Mentalitäten einer Epoche. Sie greifen Politik, Geschichte und Kultur auf und haben manchmal sogar prophetische Qualitäten. In „Liebe zu Zion“ zum Beispiel erzählt Abraham Mapu, der Vater des modernen hebräischen Romans, von der Bewegung des Zionismus – und das lange bevor Theodor Herzl ihn als Nationalbewegung begründete.


Der alttestamentarische König Salomo gilt als Verfasser des Hohelieds. Im Gemälde Giovanni Demins ist er mit der Königin von Saba zu sehen. Foto: Art Renewal Center/Wikimedia Commons

Was verraten die Texte über das heutige Leben und Lieben in Israel?

Ich denke da an den Roman „Wir sehen uns am Meer“ von Dorit Rabynian, der in Israel einen regelrechten Eklat ausgelöst hat. Es handelt sich um eine Liebesgeschichte zwischen einer Israelin und einem Palästinenser – sie endet im Fiasko. Besonders auffallend ist, dass die beiden nur außerhalb Israels zusammen sein können, etwa in New York. In Israel beziehungsweise Palästina leben sie keine 20 Kilometer auseinander, aber in Israel dürfen sie nicht zusammen wohnen, geschweige denn heiraten. Der Palästinenser mietet sich dann ein Haus und fängt an, den Garten zu bebauen – so wie einen Paradiesgarten. Er macht das in dem Wissen, dass seine israelische Geliebte dort niemals mit ihm zusammen leben wird. Der Roman ist natürlich eine Fantasie. Aber man kann sich schon die Frage stellen: Wenn es schon bei einem Liebespaar nicht funktioniert, wie schwierig ist es erst für zwei Gruppierungen oder Staaten? Das ist tragisch, aber eine realistische Einschätzung.

Was können andere Liebesliteraturen Ihrer Meinung nach von der jüdischen literarischen Tradition lernen?

Jemanden zu belehren ist eigentlich nicht meine Absicht. Doch faszinierend finde ich die unglaubliche Breite der jüdischen Liebesliteratur. Sie umfasst mehr als 2.000 Jahre, ist in frommen und atheistischen Stimmen, auf Griechisch, Hebräisch, Jiddisch, Deutsch und vielen weiteren Sprachen verfasst. Viele, die sich nicht mit dem Judentum auskennen, denken vor allem an die Orthodoxie und an ein enges, beklemmendes Leben. Dabei bietet die Literatur einen weiten Pool an Identitäten und zeigt Menschen, die sich immer wieder auf andere Kulturen einlassen und daraus etwas Eigenes, eine Mischform schmieden.

Bevor Sie sich mit der Liebe befassten, haben Sie ein Buch über das Böse in der jüdischen Literatur geschrieben.

Ja, und ich war selbst erstaunt: Die beiden Pole liegen gar nicht so weit auseinander, sie sind immer miteinander verwoben. Denken Sie an eine Scheidung – nichts schlimmer als das. Nirgends sprießt das Böse so verheerend auf wie aus einer tiefen, innigen Beziehung. Das gilt auch für viele Ideologien, die eigentlich aus guten Absichten gewachsen sind, aber dann doch ins Gefährliche kippen. Am Ende stellt man fest: Sowohl die Liebe als auch das Böse sind nur Grauschattierungen.

 




Zum Weiterlesen


Oberhänsli-Widmer, Gabrielle: „Lege mich wie ein Siegel an deinen Arm!“ Jüdische Lebenswelten im Spiegel ihrer Liebesliteratur. Stuttgart 2018.




Quelle: Kohlhammer