Mit Nanoporen Einflussfaktoren für Krankheiten entdecken
Freiburg, 22.03.2022
Der Freiburger Physiologe Prof. Jan Behrends ist stellvertretender Sprecher des Verbunds „nanodiag BW“, der Grundlagenwissenschaft, anwendungsorientierte Forschung und Industrie auf dem Gebiet der Nanoporentechnologie zusammenbringt. Die Forschenden sehen darin ein Potenzial für die medizinische Diagnostik, die Einfluss auf die Prävention und Behandlung von Krankheiten wie Alzheimer oder Krebs haben könnte. Die Finalrunde des Wettbewerbs „Clusters4Future“ hat das Projekt schon erreicht – das haben nur 15 der 117 Bewerber*innen geschafft.
Schema einer Nanopore, deren elektrische Leitfähigkeit vorübergehend abnimmt, während ein Proteinfragment durch die Pore wandert. Foto: Hahn-Schickard
Der kleine, silbergraue Kasten in Jan Behrends‘ Hand wirkt unspektakulär: Eine Klappe zum Öffnen, zwei Knöpfe, ein blau leuchtendes Display. Aber der kleine Kasten ist ein Analyseinstrument mit erstaunlichen Fähigkeiten. Er kann einzelne Moleküle detektieren und unterscheiden – mithilfe so genannter Nanoporen. Dabei werden auch die Struktur der analysierten Moleküle und physikochemische Eigenschaften bestimmt.
Jan Behrends ist Professor für Physiologie an der Universität Freiburg. Er hat nicht nur die Entwicklung des kleinen Kastens begleitet, den eine von ihm gegründete Firma realisiert. Seine Freiburger Arbeitsgruppe arbeitet auch an den Grundlagen dieser neuen Technologie. Und Behrends ist stellvertretender Sprecher der Zukunftscluster-Initiative „nanodiag BW“, die Akteur*innen aus Grundlagenwissenschaft, angewandter Forschung und Industrie versammelt und Baden-Württemberg zu einem künftigen Schwerpunkt der Nanoporentechnologie machen will. Die erste Runde ist bereits geschafft: „nanodiag BW“ gehört zu den 15 Finalist*innen im Wettbewerb „Clusters4Future“ des Bundesforschungsministeriums. Eine unabhängige Expertenjury wählte das Freiburger Projekt aus 117 Beiträgen aus – seit Oktober 2021 läuft die sechsmonatige Konzeptionsphase.
Nanoporen aus Bakterien
„Nanopore ist ein Überbegriff für allerlei Löcher im molekularen Maßstab in einem elektrisch isolierenden Material“, erläutert Behrends. „Das kann eine sehr dünne Schicht eines mineralischen Werkstoffs oder eine biologische Membran sein.“ Biologische Nanoporen bestehen aus Proteinen und bilden zum Beispiel Kanäle, durch die Stoffaustausch zwischen dem Zellinneren und dem äußeren Milieu stattfindet. „Wir benutzen in unseren Experimenten künstliche Zellmembranen, die wir selbst herstellen“, erklärt Behrends. „In diese bauen wir dann einzelne Nanoporen ein, die wir aus Bakterien gewinnen.“ Zum Beispiel nutzen die Wissenschaftler*innen hierfür das porenbildende Gift Aerolysin, das von Bakterien der Gattung Aeromonas hydrophila produziert wird. Alternativ lassen sich beispielsweise mit einem Elektronenstrahl auch Poren im Nanomaßstab in dünne Schichten von Siliziumnitrid bohren. „Bakterien können aber präzisere Löcher machen als wir“, sagt Behrends. Deswegen seien bakterielle Poren eine Spezialität der Freiburger Forscher*innen – denn präzise und immer identische Porenformen sind wichtig, um auch präzise Messergebnisse bei der Molekülanalyse zu erreichen.
Diese funktioniert – in groben Zügen – so: Die künstliche Zellmembran mit Nanopore „badet in einem leitfähigen Medium“, so Behrends, zum Beispiel in einer Salzlösung, an die Spannung angelegt wird. Folglich fließt Strom durch die Pore. „Gerät nun eine nicht leitende Substanz wie ein Peptid in die Pore, etwa aufgrund von Diffusion oder weil sie selbst eine Ladung hat, dann messen wir einen Abbruch des Stroms“, sagt Behrends. Mit anderen Worten: Wandern Biomoleküle durch die Pore, verändert sich die elektrische Leitfähigkeit der Pore charakteristisch. Die Art der Veränderung gibt Aufschluss darüber, um was für ein Molekül es sich handelt, welche Form oder Sequenz es hat.
Neue Erkenntnisse für die Alzheimer-, Krebs und Virenforschung
Die Freiburger Arbeitsgruppe beschäftigt sich vor allem mit der Analyse von Aminosäuren beziehungsweise Peptiden. „Dank der Aerolysin-Pore hoffen wir, Peptide mit hoher Genauigkeit voneinander unterscheiden zu können, selbst wenn sie dieselbe Masse, aber eine andere räumliche Anordnung haben.“ Diese Unterscheidung von Isomeren ist in der klassischen Massenspektrometrie nur mit enormem Aufwand möglich – und könnte zum Beispiel Aufschluss über chemische Modifikationen von Proteinsequenzen liefern.
Von solchen sogenannten posttranslationalen Modifikationen ist bekannt, dass sie bei Krankheiten wie etwa Alzheimer oder Krebs eine Rolle spielen; auch in der Virologie versprechen sich die Forschenden neue Erkenntnisse. Entsprechend hoch schätzen sie das Potenzial ihrer Technologie für die medizinische Diagnostik ein. Gerade im Gebiet der Epigenetik könnte die Nanoporentechnologie zu einem besseren Verständnis der Vorgänge auf zellulärem Niveau beitragen und so passgenauere Ideen für Prävention und Behandlung von Krankheiten liefern, so Behrends: „Für all das wollen wir in unserem Cluster eine diagnostische Plattform entwickeln.“
Baden-Württemberg als Standort für Nanoporentechnologie
Bisher sei die Technologie nämlich „in Deutschland nur sehr punktuell präsent“. Der Zukunftscluster-Finalist wolle sie nun in Baden-Württemberg etablieren und „eine kritische Masse entwickeln“ – inklusive einer Graduiertenförderung. Koordiniert wird das Projekt von der Hahn-Schickard-Gesellschaft für angewandte Forschung in Freiburg, erster Sprecher des Zukunftscluster-Finalisten ist Institutsleiter Felix von Stetten. Weitere Akteur*innen sind unter anderem das Freiburger Universitätsklinikum, das Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik, das Fraunhofer-Institut für Werkstoffmechanik sowie mehrere Freiburger Start-ups. Hinzu kommen die Universität Stuttgart und mit dem Reutlinger Naturwissenschaftlich-Medizinischen Institut, dem Institut für Lasermedizin in Ulm und dem Hahn-Schickard-Institut in Villingen-Schwennigen weitere Vertreter der Innovationsallianz Baden-Württemberg. Auch einige größere Unternehmen wie Bosch und Endress & Hauser sind dabei. Das Projekt beruht auf der vorangegangenen Zusammenarbeit mehrerer Akteur*innen auf dem Gebiet der Nanoporenanalytik in Baden-Württemberg, für die die Landesregierung im Jahr 2020 eine Anschubfinanzierung von rund fünf Millionen Euro über zwei Jahre gewährt hatte. Hier wird auch bereits an weiteren Schwerpunkten von „nanodiag BW“ gearbeitet: nämlich den künstlich hergestellten Poren die gleiche Präzision und Wiederholbarkeit beizubringen wie den bakteriellen, sowie Nanoporen direkt in elektronische Mikrochips zu integrieren.
Förderung entscheidet sich im Juli 2022
In der seit Oktober 2021 laufenden Finalrunde hat der Zukunftscluster-Finalist nun sechs Monate Zeit, seine Konzeption weiter zu entwickeln. Die endgültige Entscheidung fällt dann im Juli 2022. „Das Projekt zielt auf Anwendungen“, sagt Jan Behrends, „Wir müssen auch Industriemittel einwerben“. Ist der Zukunftscluster-Finalist erfolgreich, ist eine Förderung von dreimal drei Jahren möglich – mit einem Fördervolumen von maximal 15 Millionen Euro pro Drei-Jahres-Zyklus.
Sollte das gelingen, stehen in Zukunft wohl noch wesentlich mehr solcher Kästen in den Laboren von Universitäten, Forschungsinstituten, Biotech-Firmen oder Pharmaunternehmen, die den Einsatz der Nanoporentechnologie standardisieren, vereinfachen und damit eine viel breitere Anwendung ermöglichen könnten.
Thomas Goebel