Mit Abstand betrachtet: die Welt nach Corona
Freiburg, 28.05.2020
Wie wird die Welt nach der Coronakrise aussehen? Wie wird sich die Pandemie auf die Zukunft auswirken? Solche Fragen sind ein Kernstück der Futurologie: Die Wissenschaft beschäftigt sich mit Entwicklungen auf technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gebieten. Dafür kombinieren Forscherinnen und Forscher Erkenntnisse über die Vergangenheit mit dem Wissen über heutige Strukturen. Sarah Schwarzkopf hat mit dem Zukunftsforscher Prof. Dr. Michael Schetsche vom Institut für Soziologie der Universität Freiburg gesprochen. Sorgen bereitet ihm vor allem die Vorstellung mancher Menschen, wie mit Alten und Kranken umzugehen sei.
Wenn Menschen andere dauerhaft als Risiko wahrnehmen, ist das mit großem Stress für die Psyche verbunden. Foto: Kzenon/stock.adobe.com
Herr Schetsche, seit einigen Monaten leben Menschen auf der ganzen Welt in einer Ausnahmesituation. Ist alles wieder beim Alten, wenn die Coronakrise überstanden ist?
Michael Schetsche: Ich höre in den Medien immer wieder zwei entgegengesetzte Thesen: Nichts wird nach Corona so sein wie vorher. Und: Im Grunde genommen wird sich nichts ändern. Ich denke, beide Thesen sind falsch. Sicherlich werden die meisten gesellschaftlichen Strukturen nach der Krise noch so sein wie vor der Krise. Doch es deuten sich jetzt schon einige starke Veränderungen an: im Bereich der Ökonomie und der Arbeitswelt, im Gesundheits- und im Bildungssystem. Und nicht zuletzt bei den kollektiven psychischen Strukturen unserer Gesellschaft.
Wie kann die Zukunftsforschung beim Umgang mit so einer Situation helfen?
Meine Methode ist die Szenario-Analyse, mit der ich über Schlüsselfaktoren verschiedene mögliche Entwicklungen prognostiziere: Wenn wir jenes machen, wird es sich in diese Richtung entwickeln – wenn wir anders handeln, wird es einen ganz anderen Verlauf nehmen. Die Futurologie versucht, durch warnende Prognosen zu verhindern, dass eine ungute Entwicklung überhaupt eintritt. Es hängt immer vom Handeln der Gesellschaft ab, wie alles kommen wird. Geschichte passiert nicht, sie wird durch menschliche Kollektive gemacht.
Mit welchen Veränderungen rechnen Sie zum Beispiel?
Eine der stärksten Veränderungen betrifft die Arbeitswelt. Es sind bereits alle Technologien vorhanden, um erfolgreich von daheim aus zu arbeiten, und es war binnen weniger Wochen möglich, fast ein Viertel aller Arbeitsplätze auf Homeoffice umzustellen. Viele hielten das vorher für unrealistisch. Das ist ein Erkenntnisgewinn, hinter den wir nicht wieder zurückfallen können. Die Auswirkungen werden wir langfristig spüren, insbesondere an der Zahl der Berufspendlerinnen und -pendler. Dies hat erhebliche ökologische Vorteile, aber auch positive Auswirkungen auf die Zeitbudgets der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Langfristig könnte das zu einer starken Umgestaltung der Arbeitswelt führen.
Auch im Bildungssystem gibt es gerade viele Neuerungen.
Die Situation für Schule und Ausbildung sehe ich kritisch: Wir erleben eine erzwungene Digitalisierung – die Folgen dieser Umstellung sind aber nicht geklärt. Die Krise zeigt, dass Wissensvermittlung teilweise gut über Online-Medien erfolgen kann. Es gibt aber durchaus didaktische Gründe für Präsenzunterricht. Wir müssen aufpassen, nicht im Überschwang eines Digitalisierungsoptimismus kostbare Lehr- und Lernformen zu verlieren. Bildungsinvestitionen können auch zu Rückschritten im Fortschritt führen: Wenn traditionelle Tafeln durch interaktive Whiteboards ersetzt werden, gibt es im Klassenzimmer oft kein Waschbecken mehr – in Zeiten von Kreide und Schwamm noch unverzichtbar.
„Wir müssen aufpassen, was wir über die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft denken“, mahnt der Soziologe Michael Schetsche. Foto: Michael Schetsche
Sie sagten, sie erwarten Veränderungen in den kollektiven psychischen Strukturen. Was meinen Sie damit?
Zum ersten Mal in dieser Generation sind wir mit einer so massiven gesundheitlichen Gefahr konfrontiert. Dies kann dazu führen, dass unsere Wahrnehmung der Mitmenschen stärker vom Risiko beherrscht wird als früher. Das könnte zu Änderungen im täglichen Verhalten führen: Wie groß wird der Durchschnittsabstand, wenn wir auf der Straße miteinander reden? Wird das Händeschütteln weiterhin das wichtigste Begrüßungsritual sein? Wen nehmen wir im Alltag noch in den Arm?
Kann so eine Krise solche Gewohnheiten auch langfristig verändern?
Bereits bei Pest-, Cholera- und Grippe-Epidemien früherer Jahrhunderte kam es zu Veränderungen im Alltagsverhalten: sich maskieren, Abstand halten, wenige Menschen treffen. Auch Begrüßungsrituale änderten sich deutlich. Ich vermute, dass die Veränderungen umso auffälliger werden, je länger die Krise anhält. Ein ganzes Jahr könnte den Umgang miteinander für etliche folgende Jahre verändern. Allerdings sind Alltagsrituale und Gewohnheiten auch sehr zeitstabil. Es kann sein, dass sich nach einigen Jahren alles wieder so einrenkt, wie es vor der Coronakrise war. Die Menschen vergessen schnell.
Was macht es mit unserer Psyche, wenn wir unsere Mitmenschen als Risiko wahrnehmen und den Körperkontakt reduzieren?
Wir leiden unter beidem. Das eine lässt uns dauerhaft misstrauisch werden, verändert unsere Wahrnehmung der Welt und die Art und Weise, wie wir uns durch unsere Umwelt bewegen: vorsichtiger, immer auf der Hut, niemandem zu nah kommen. Das ist auf Dauer im Alltag mit erheblichem Stress verbunden. Auch die Verringerung der Körperkontakte wirkt sich negativ aus. Berührungen gehören zu den wichtigsten sozialen Aktivitäten. Wenn sie fehlen, werden Kinder krank. Auch Erwachsenen bekommt das nicht – unser Hormonsystem ist stark auf Berührungen ausgerichtet.
Wie beeinflusst die Krise unsere Solidarität untereinander?
Im Moment halten sich positive und negative Auswirkungen die Waage. Zum einen haben wir das Gefühl, im selben Boot zu sitzen. Das stärkt die Solidarität untereinander. Zum anderen gibt es aber Debattenbeiträge, die in eine ganz andere Richtung weisen: Was mich mit Sorge erfüllt, ist ein neuer gedanklicher Umgang mit älteren und kranken Menschen – auch bei Politikerinnen und Politikern. Hier erleben wir eine Geringschätzung; eine Abwertung anderer Menschen, wie wir sie seit Ende der Naziherrschaft nicht mehr hatten. Einige betrachten diese Menschen als Störfaktor, als verantwortlich für die Einschränkungen im Alltag. Das ist ein massives Signal für Prozesse der Entsolidarisierung. Darin sehe ich vielleicht die größte Gefahr, die von der aktuellen Krise ausgeht. Wir müssen aufpassen, was wir über die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft denken. Bislang gehörte das Recht auf Leben zum Konsens unserer Werteordnung. Dass verschiedene Personen das nun relativieren, könnte in Zukunft böse Konsequenzen haben.