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Länger, als das Universum existiert

Freiburger Astroteilchenphysiker messen eine Weltrekords-Halbwertszeit

Freiburg, 23.05.2019

Länger, als das Universum existiert

Foto: XENON1T-Experiment

Der Urknall ist recht lange her. Der Abstand wirkt aber wie ein Wimpernschlag im Vergleich zur Halbwertszeit des Edelgasisotops Xenon-124: Sie übertrifft das Alter des Universums um Billionen Jahre. Freiburger Forschenden gelang es mit der internationalen XENON-Kollaboration, diesen Wert zu messen – und damit ein spektakulärer Rekord.

Mit dem Detektor XENON1T haben Forschende den Zerfall mit der längsten jemals gemessenen Halbwertszeit beobachtet. Foto: XENON1T-Experiment

Halbwertszeit: 1,8 mal 1022 Jahre! Das ist lang – eine Billion Mal länger, als das Universum existiert. Die Zahl klingt absurd, so als habe sich ein derartiger Zerfall seit dem Urknall vor etwa 14 Milliarden Jahren womöglich noch nie ereignet? „Das ist ein Trugschluss“, sagt Prof. Dr. Marc Schumann vom Physikalischen Institut der Universität Freiburg: Der experimentelle Astroteilchenphysiker konnte mit der internationalen XENON-Kollaboration genau diesen Zerfall beobachten – und der hat die längste jemals gemessene Halbwertszeit. Dieser Weltrekord war der Fachzeitschrift Nature eine Coverstory wert. Ein Zeichen, wie spektakulär dieses Ergebnis ist, findet Schumann: „Sonst interessieren sich Magazine wie Nature und Science nie für unsere Ergebnisse.“

Eine Thermoskanne tief im Fels dient als Detektor

Übrigens Halbwertszeiten. Die längste besitzt wohl das Isotop Tellur-128. So haben es Geophysikerinnen und Geophysiker indirekt von anderen Tellur-Zerfällen abgeleitet, nicht gemessen. „Das wird schon stimmen“, glaubt Schumann. Sicher sein kann er sich dagegen bei Xenon-124 oder 124Xe: Das Isotop des Edelgases Xenon zerfällt mit besagter Halbwertszeit von 1,8 mal 1022 Jahren – gemessen. Wie das geht bei einem so seltenen Ereignis? Halbwertzeiten geben an, wann die Hälfte von etwas zerfallen ist. Konkret: Eine Hälfte zerfällt danach, die andere vorher. Das Zerfallen beginnt also sofort. Um die seltenen Zerfälle des Xenon-Isotops messen zu können, müssen Forscherinnen und Forscher nur eine ziemlich große Menge 124Xe zur Hand haben – und geeignete Detektoren.

Das Grand-Sasso-Gebirge in Italien: 1.500 Meter tief im Gestein ruht das Experiment, damit es von Strahlung aus dem Kosmos möglichst gut abgeschirmt ist.
Foto: MrPanyGoff/Wikimedia Commons CC BY-SA 4.0

Beides gibt es 1.500 Meter tief im Gestein des italienischen Grand-Sasso-Gebirges. Dort ruht das XENON1T-Eperiment. Neben wichtigen Komponenten des Detektors hat Schumanns Gruppe das Datenauslesesystem entwickelt und war an der Analyse beteiligt. XENON1T gleicht einer Art überdimensionierter Thermoskanne: Ihr Herz ist ein Zylinder, dessen Wand an den Stirnseiten mit 248 hoch empfindlichen Lichtsensoren bestückt ist. Sie empfangen Signale, die in einem Kern aus zwei Tonnen minus 95 Grad kaltem, flüssigem Xenon entstehen. Weil ein Promille des natürlichen Xenons als 124Xe vorliegt, enthält diese Menge massenhaft der Isotope. „So viele, dass jedes Jahr einige davon zerfallen müssen“, präzisiert der Astroteilchenphysiker.

Die Forscher haben unter Tage 126 Doppelelektroneneinfänge von 124Xe detektiert. So heißen die Zerfälle fachsprachlich korrekt. Sie zu bekommen ist also nicht das Hauptproblem, sie zu messen schon. „Dafür waren andere Detektoren bisher zu klein und zu dreckig“, sagt Schumann. Dreckig bedeutet: Das Grundrauschen durch Störsignale ist zu hoch. Es überdeckt seltene Zerfallsignale. Denn nicht nur interne Xenon-Zerfälle verursachen Messsignale, sondern auch alle Teilchen von außen, die im Zylinder auf einen Xenon-Kern prallen. Daher ist XENON1T unter 1,5 Kilometern Fels begraben und mit einem großen Wassertank umgeben. Sie schirmen Strahlung aus dem Kosmos und dem benachbarten Forschungslabor ab.

Eine blinde Analyse hebelt die Erwartungen aus

Bleibt noch die natürliche Radioaktivität, die alle Materialien abgeben – selbst die Bauteile des Detektors. Diese Strahlung gilt es zu minimieren und zu messen. Ihre Stärke ist konstant. „Der Untergrund, den sie hervorruft, verläuft völlig flach“, sagt Schumann und präsentiert eine Grafik mit Messpunkten, die eine gerade Linie verbindet. Sie muss allerdings so tief liegen, dass sich Zerfallsignale davon abheben. So wie die Hügelkurve aus Messpunkten, auf die Schumann jetzt deutet: „Wir haben ein klar sichtbares Signal bekommen.“ Woher weiß er, dass es von 124Xe-Zerfällen stammt?

Der Freiburger Astroteilchenphysiker Marc Schumann will die Entwicklung exzellenter Detektoren weiter vorantreiben. Foto: Jürgen Gocke

„Das ist der kritische Punkt“, räumt er ein. Um ihn zweifelsfrei zu klären, sicherte sich die XENON-Kollaboration mehrfach ab. Sie hat beispielsweise die menschliche Natur ausgehebelt: Erwartungen trüben bekanntermaßen die Objektivität. „Diese Halbwertszeit zu messen war ja auch ein Ziel des Experiments“, erzählt Schumann. Darum mussten die Expertinnen und Experten den Strahlungsuntergrund im interessanten Messbereich und die Art des erhofften Signals genau ermitteln – ohne je Daten aus diesem Segment gesehen zu haben. „Die Analyse erfolgte blind“, verdeutlicht der Detektorfachmann. Entsprechend erforderten die Berechnungen und die Kalibrierung des Detektors gewisse Umwege. Erst danach begann die Auswertung des Datenbereichs, in dem das erhoffte Signal zu erwarten war.

XENON1T detektiert Licht: Bei Zerfällen von 124Xe entsteht Röntgenstrahlung, die einige Xenon-Atomkerne dazu anregt, Licht abzugeben. Doch XENON1T misst auch winzige elektrische Ladungen. Die werden bei solchen Ereignissen ebenfalls frei, bewegen sich aber viel langsamer als Licht. „Aus dem Zeitunterschied der Signale können wir die Position errechnen, an der ein Zerfall im Detektor passiert ist“, sagt Schumann. Noch wichtiger war, dass die Signale die erwartete Energie hatten. Nachdem eine Schar Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mehr als ein Jahr über den Daten gebrütet hatte, stand fest: Die Signale rührten von 124Xe-Zerfällen her. Daraus, wie viele davon in der Messzeit stattfanden und bezogen auf die Gesamtmenge an 124Xe, ergab sich die enorme Halbwertszeit.

Die Forscher wollen Empfindlichkeits-Weltmeister sein

„Es ist schön, sie gemessen zu haben“, meint Schumann: „Wir sind happy.“ Sonst hat der Weltrekord kaum Konsequenzen. Er wirft etwa kein neues Licht auf die unerklärliche Dunkle Materie, die fast ein Viertel des Universums ausmacht. „Das wäre eine Nobelpreismessung gewesen“, sagt Schumann, der in Teilchenphysik promoviert hat. Auf seiner zweiten Postdoc-Stelle in Houston, Texas/USA kam er zur Astroteilchenphysik. Diese Disziplin stellt keine Teilchen künstlich her, sondern versucht nachzuweisen, was das Universum schon anbietet. „Meine Motivation ist, möglichst exzellente Detektoren zu bauen“, sagt Schumann, der seit 2016 als Professor in Freiburg eine 20-köpfige Arbeitsgruppe leitet.

XENON1T ist Nummer drei einer Baureihe: „Das Prinzip bleibt stets gleich, nur Größe und Empfindlichkeit wachsen.“ Derzeit ist der XENON1T-Nachfolger XENONnT in Bau. Statt zwei Tonnen wird seine Messmasse 5,9 Tonnen Xenon umfassen. Die Herausforderung dabei sind die radioaktiven Baustoffe: „Wir müssen mit immer weniger Material immer größere Detektoren herstellen, um das Grundrauschen zu senken und so höchste Empfindlichkeit zu erreichen“, sagt Marc Schumann, „Darin wollen wir Weltmeister sein.“

Jürgen Schickinger

http://www.xenon1t.org

 

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