Katholizismus im Wandel
Freiburg, 01.02.2018
Die christlichen Kirchen scheinen dramatisch an Bedeutung zu verlieren: Immer mehr Menschen kehren ihnen hierzulande den Rücken. Insbesondere von der Aufklärung geprägte Katholikinnen und Katholiken tun sich schwer mit dem Zölibat und dem Ausschluss von Frauen aus den Weiheämtern. Das alles bildet kaum noch die Lebenswirklichkeit der Menschen ab und kommt daher höchst unzeitgemäß daher – zumindest aus europäischer Perspektive. Die aber erscheint selbst längst als unzeitgemäß, weil die Entwicklung in den vergangenen hundert Jahren mit Riesenschritten vorangegangen ist.
Die bunten Perlen des Rosenkranzes symbolisieren die neue Vielfalt des katholischen Christentums. Forscher der Universität Freiburg zeigen, dass in der Vielfalt eine neue Art von Einheit wachsen kann. Foto: Adam Ján/Fotolia
Wer, wie Juniorprofessor Dr. Bernhard Spielberg von der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität und seine dreiköpfige Nachwuchsforschergruppe, den Blick auf die „globale Transformation des Katholizismus“ richtet – so der Titel ihres Forschungsprojekts –, kann erstaunliche Erkenntnisse gewinnen. Sie könnten Früchte tragen, nicht nur für die katholische Kirche, sondern für die Gesellschaft insgesamt. Ein Blick auf die religiöse Weltkarte zeigt: Das Christentum hat sich rasant ausgebreitet, von 612 Millionen Christinnen und Christen im Jahr 1910 auf 2,2 Milliarden hundert Jahre später. In Europa ist die Anzahl der Christen von 406 auf 566 Millionen vergleichsweise geringfügig gestiegen. In anderen Erdteilen wie Amerika, Asien und Afrika sieht es dagegen anders aus. Analog dazu entwickelte sich die römisch-katholische Kirche: Sie wuchs von etwa 290 Millionen Mitgliedern im Jahr 1910 auf heute 1,2 Milliarden Mitglieder. Europa ist dabei längst nicht mehr der Nabel der katholischen Welt: 39 Prozent der Katholiken leben in Lateinamerika, nur noch 24 Prozent – im Jahr 1910 waren es noch 65 Prozent – in Europa, 16 Prozent in Afrika südlich der Sahara und 11 Prozent in Asien. „Es hat eine Entwestlichung stattgefunden“, diagnostiziert Bernhard Spielberg. „Die Gewichte haben sich auf die Länder des Südens und des Ostens verlagert.“
Mit einem Anteil von 17,5 Prozent an der Weltbevölkerung sei die katholische Kirche zu einer transnationalen Organisation geworden, die den Namen Weltkirche tatsächlich verdiene, so Spielberg. Dass mit Franziskus erstmals ein Papst gewählt wurde, der nicht aus Europa, sondern aus Lateinamerika stammt, scheint der personifizierte Beweis für die geänderten Vorzeichen, unter denen diese Weltkirche steht. Mit seinem entschiedenen Eintreten gegen die Armut kommt der Mann aus Argentinien bei der europäischen Basis gut an. Seine klassische Sexualmoral oder die Ablehnung von Frauen für das Priesteramt findet weniger Zustimmung. Franziskus passt damit in keine der europäischen Schubladen, bedient weder progressive noch konservative Klischees.
Aufbrechen starrer Muster
Über Jahrhunderte hatte sich in Europa die Idee von der katholischen Kirche als Einheit unverrückbar eingenistet: Überall dienten die gleichen Rituale, Regeln, Farben und Formen als „Corporate Identity“. Noch bis in die 1960er Jahre wurde die Liturgie weltweit auf Latein gehalten. Und jetzt? Wird sie in den jeweiligen Sprachen der Völker gefeiert. „Im Gottesdienst reden und singen die Leute nicht mehr gleich. Die Priester sehen nicht mehr gleich aus“, konkretisiert Spielberg, was Globalisierung für den Katholizismus bedeutet. Was bleibt von ihm übrig, wenn sein einstiger „Markenkern“ nicht mehr funktioniert? Eine Frage, die auch alle anderen umtreibt, die von der Globalisierung betroffen sind und sich von ihr bedroht fühlen: politische Parteien, Nationen, Bürgerinnen und Bürger in der Stadt und auf dem Land.
Die Idee von der katholischen Kirche als Einheit schien lange unverrückbar: Überall dienten die gleichen Rituale, Regeln, Farben und Formen als „Corporate Identity“. Foto: PavelPrichystal/Fotolia
Bernhard Spielberg und seine Nachwuchsforscherinnen und -forscher untersuchen, wie sich die katholische Kirche durch ihre eigene Globalisierung verändert. Dazu nehmen sie – nach der Identifizierung globaler Entwicklungslinien – drei bedeutsame Transformationen in den Blick. Die Doktorandinnen Anna-Maria Müller und Franziska Seidler sowie der Doktorand Simon Ruscher forschen dazu in drei unterschiedlichen Weltgegenden. „Die verschiedenen Denkansätze und Biografien sind eine Bereicherung für unseren Forschungsgegenstand.“ Die einzelnen Fallstudien, die auf ethnologischer Feldforschung basieren, werden in drei theologische Dissertationen münden.
Eine neue Art von Einheit
Simon Ruscher hat sich bei multikulturellen Pfarreien an der Westküste der USA umgesehen. Dort teilen sich Menschen unterschiedlicher Herkunft und Kultur die Ressourcen einer Pfarrei. Sie alle sind Katholiken, praktizieren ihren Glauben aber ganz unterschiedlich. Die Leitung lässt ihnen Freiraum, ihre kulturelle Eigenständigkeit zu wahren, ohne sie jedoch in eine Parallelgesellschaft zu entlassen. Gottesdienste auf Spanisch und Tagalog, der auf den Philippinen am weitesten verbreiteten Sprache, wechseln sich ab mit angloamerikanischen Gottesdiensten. Niemand muss sich an herkömmliche Mehrheitsrituale anpassen und kann sich gerade deshalb einem Ganzen zugehörig fühlen. Die unterschiedlichen Communities sind fest eingebunden in die Strukturen, Führungsebenen und gemeinsamen Feste ihrer Pfarrei. In der Vielfalt kann eine neue Art von Einheit wachsen. Solche „Shared Parishes“ können nach Ansicht des Pastoraltheologen Spielberg zum Lernfeld für die ganze Gesellschaft werden – auch hierzulande, wo Integration häufig mit Assimilation gleichgesetzt werde.
Franziska Seidler ist nach Kenia ins östliche Afrika gereist und wollte wissen, welche Rolle die Seelsorgerinnen und Seelsorger dort spielen. Ein Foto zeigt einen Seelsorger, der in seiner zivilen Kleidung kaum als Priester zu erkennen ist, im Gespräch mit Frauen. Sie notieren, was besprochen wird. Ein sakraler Raum mit Kreuz und einer Marienfigur dient auch als Ort der Bildung. „Der Priester als kirchliche Autoritätsperson steht in Afrika vor großen Herausforderungen“, erklärt Spielberg. „Er wird zum Kulturagenten, der Gräben überbrückt, wo Familienstrukturen und agrarische Gesellschaften sich wandeln und den Menschen die Fundamente des Zusammenlebens entzogen werden.“ Die Männer ziehen in die Stadt zum Geldverdienen, Frauen und Kinder bleiben auf dem Land zurück, die Globalisierung verändert das Leben der Menschen. Die Digitalisierung ist in Afrika weit fortgeschritten und ersetzt eine schlechte Infrastruktur. Die Priester nutzen die mobile Kommunikation – aber nicht, um die Menschen zu missionieren: „Ihr Selbstverständnis ist es, Menschen zur Eigenverantwortung zu ermutigen und dafür zu sorgen, dass sie gut leben können.“
Noch bis in die 1960er Jahre wurde die Liturgie weltweit auf Latein gehalten. Heute wird sie in den jeweiligen Sprachen der Völker gefeiert. Foto: elenakibrik/Fotolia
Eigene kulturelle Ausprägung
Anna-Maria Müller schließlich hat in einer Region im nordöstlichen Indien herauszufinden versucht, welche Vorstellungen von Gott sich unter den dortigen Katholiken nach dem Ende der abendländischen Deutungshoheit entwickelt haben. Symptomatisch dafür ist der gekreuzigte Christus: Das riesige Kreuz im Chor der Kirche ist auf einen mächtigen Sockel aus drei aneinandergelehnten Baumstämmen montiert. Bäume gelten dem Volk der Adivasi als Träger von Spiritualität. Hier verbindet sich das traditionelle Gottesverständnis auf harmonische Weise mit dem christlichen. Das zeigt, wie eine Gesellschaft mit ihrer jeweiligen Kultur und die Lebenssituation der Menschen das Verständnis von Gott prägen. „Kirche ist kein Freilandmuseum“, sagt Spielberg. „Sie entwickelt in jeder Zeit und an jedem Ort ihre eigene kulturelle Ausprägung, sonst könnte sie gar nicht lebensrelevant werden.“ Dazu fällt ihm ein Zitat von Raimon Panikkar ein, einem Vertreter des interreligiösen Dialogs: „Ich verließ Europa als Christ, ich entdeckte, dass ich ein Hindu war, und ich kehrte als Buddhist zurück – ohne jemals aufgehört zu haben, ein Christ zu sein.“
Das Fazit der Nachwuchsforscher: Das katholische Christentum steht vor der Herausforderung, sich – wie in seinen Anfängen – als lokal jeweils unterschiedlich ausgeprägte Lebenshaltung mit entsprechend unterschiedlichen liturgisch-religiösen Ausdrucksformen zu verstehen, „und nicht primär als religiöse Weltanschauungsgemeinschaft, die unabhängig vom jeweiligen Kontext existiert wie ein Geheimbund“. Der Wandel dürfte weniger von den kirchlichen Institutionen ausgehen, als vielmehr durch die Migration zwischen den Ortskirchen eingeleitet werden. Politisch, prophezeit die Forschungsgruppe, könnte die Kirche zu einer „Agentin der Demokratisierung in einer multipolaren Weltordnung werden“. Der Theologe Karl Rahner prophezeite in den 1960ern, die eurozentristische katholische Kirche werde ein ganzes Jahrhundert brauchen, bis sie sich zur Weltkirche gewandelt habe. Knapp fünfzig Jahre bleiben ihr noch.
Anita Rüffer