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Jede Stimme zählt

Die Amerikanistin Sieglinde Lemke über den Ausgang der Präsidentschaftswahl in den USA

Freiburg, 09.11.2020

Die Freiburger Professorin für Nordamerikastudien Prof. Dr. Sieglinde Lemke ist im Interview mit Jürgen Reuß zuversichtlich, dass die USA unter Wahlgewinner Joe Biden und seiner starken Vizepräsidentin Kamala Harris eine gute Entwicklung nehmen wird.


Wichtige Zeichen gegen Donald Trumps „Stop the Count“: Gouverneure in entscheidenden US-Staaten wollen sichergehen, dass jede abgegebene Stimme zählt.

Foto: Halfpoint/stock.adobe.com

Frau Lemke, Joe Biden wird neuer Präsident der USA. Was war Ihre erste Reaktion auf das Wahlergebnis?

Sieglinde Lemke: Für mich war es ein Aufatmen nach einer langen Hängepartie nicht nur für die Menschen in den USA, sondern in der ganzen Welt, allerdings in einer Mischung aus Freude und Skepsis.

Skepsis? Glauben Sie, dass sich am Wahlergebnis noch etwas ändern könnte?

Donald Trump hat schon früh den Begriff „Betrug“ ins Spiel gebracht, in einigen Staaten werden Nachzählungen gefordert werden, und beide Seiten haben ihre Juristinnen und Juristen mobilisiert … all diese Verfahren könnten womöglich Einfluss auf das Ergebnis haben. Ich hoffe es allerdings nicht, denn sollten solche Manöver Erfolg haben und verhindern, dass Stimmen, die abgegeben wurden, gewertet werden, hätte das drastische Folgen für das Demokratieverständnis.

Wird ein Nachzählen nicht zum selben Ergebnis führen?

Ich gehe davon aus. Alles spricht dafür, dass die Wahl korrekt abgelaufen ist und das demokratische Procedere gewahrt wurde. Die Gouverneure in den entscheidenden Staaten haben versichert, dass sie darauf achten werden, dass jede abgegebene Stimme zählt. Auch gibt es Wahlbeobachterinnen und Wahlbeobachter beider Parteien, die vor Ort den Ablauf kontrollieren. Aber sichere Vorhersagen über die amerikanische Politik im Allgemeinen und diese Wahl im Besonderen sind schwerer geworden.

Bis der Wahlsieger als Präsident anerkannt wird, könnte sich länger hinziehen als üblich?

Wenn es korrekt zugeht nicht. Es gibt ja Vorgaben: Am 8. Dezember 2020 muss der Präsident bekannt gegeben werden, am 3. Januar 2021 muss der Kongress zusammentreten, und am 20. Januar ist die Amtseinführung. Aber es bleibt spannend, ob das zu erwartende juristische Hauen und Stechen zu Komplikationen und Ausschreitungen führen wird.

Was wird Biden als Wahlsieger unter diesen Umständen tun?

Sich bei seinen Wählerinnen und Wählern bedanken und heilsame, versöhnliche Worte für die Nation finden – Teil seines Wahlversprechens war ja, die amerikanische Seele zu kurieren.

Ist Biden der Richtige dafür?

Es gibt keine Alternative. Biden ist die einzige Hoffnung, um aus der jetzigen Misere und der extremen Spaltung der Nation herauszukommen. Die Einheit der Nation hat in den letzten vier Jahren durch die skandalgetriebenen Diskurse und das Erstarken des Rechtspopulismus sehr gelitten. Eine weitere Amtsperiode von Trump hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Biden hat wenigstens die Absicht erklärt, gegenseitigen Respekt und zivilen Anstand wieder in den Vordergrund zu stellen. Er ist die einzige öffentliche Person, die ein Mehrheitsvotum und damit auch das Mandat dafür hinter sich hat, die Einheit wiederherzustellen. Angesichts der Hyperpolarisierung ist diese Herkulesaufgabe existentiell.

Welche ersten Maßnahmen erwarten Sie von ihm?

Dass er die Bekämpfung von Covid-19 vorantreibt, den Top-Virologen Anthony Fauci – anders als von Trump angekündigt – nicht feuert und die Beziehungen zur Weltgesundheitsorganisation WHO wiederherstellt. Sich unbedingt um die Wirtschaft kümmert, Infrastrukturpakete aufsetzt, Rettungsschirme aufspannt, aber auch das Steuerrecht anpackt. Trump hatte die Unternehmensteuer von 35 auf 21 Prozent gesenkt. Biden hat angekündigt, diese Senkung wieder zurückzunehmen und die Steuer auf 28 Prozent hochzusetzen. Auch will er den Spitzensteuersatz um 2,6 Prozent erhöhen. Dies sind wichtige Voraussetzungen, um gegen die wachsende ökonomische Ungleichheit anzugehen.


Für Sieglinde Lemke ist die designierte Vizepräsidentin Kamala Harris der geheime Star der Präsidentschaftswahl in den USA. Foto: privat

Trump hat weder mehr Arbeitsplätze noch Verbesserungen für den Mittelstand gebracht. Warum haben ihm so viele Menschen ihre Stimme gegeben, wenn doch die Ökonomie so entscheidend ist?

Stimmt, das Trumpsche Narrativ, dass er Arbeitsplätze geschaffen habe, es der Wirtschaft so gut gehe wie nie zuvor, ist Unsinn. Aufgrund der steigenden Lebenskosten ist es vielen in der unteren Mittelschicht nicht möglich, ökonomische Sicherheit zu erreichen. Die Mehrheit ist verschuldet und der Anteil der Menschen in der Bevölkerung, die von heute auf morgen nicht einmal 400 Dollar aufbringen können, beträgt 40 Prozent.

Trotzdem wählen Leute lieber Menschen, die ihnen erzählen, dass es ihnen besser geht, als die, die etwas dafür tun?

Offenbar. Die Mehrheit derjenigen, denen es finanziell nicht gut geht – immerhin etwa ein Drittel der Bevölkerung – hat faktisch entgegen ihren ökonomischen Interessen einen Präsidenten gewählt, der die Armen ärmer und die Reichen reicher macht, ihnen dafür aber erzählt, wie großartig sie sind, wie hervorragend es der Wirtschaft geht und wie toll die USA dastehen. Das hat leider funktioniert. Das kulturelle Narrativ und Trumps Suggestivkraft haben über die soziökonomischen Fakten gesiegt. Alle Studien zu Armut und Ungleichheit zeichnen ein gut belegtes Bild vom ökonomischen Leiden der Bevölkerung. Jedoch schaffen es solche Fakten seltener in die Medien. Der Wahlsieg Bidens bedeutet vor diesem Hintergrund, dass Millionen von Wählern erkannt haben, dass Trump nicht geliefert hat.

Trotz gemeinsamem Leid ist das Land extrem gespalten…

Das Aufkommen von Rechtsextremismus und Populismus mit Trump als oberstem Polarisierer ist letztlich ein Symptom für eine ökonomische Entwicklung, die in den 1980-er Jahren mit der Deregulierung der Wirtschaft einsetzte. Sie hat den allgegenwärtigen Lobbyismus im Kongress beflügelt und die Gesellschaft den Bedürfnissen des Marktes unterworfen. Nachdem der Markt zum alles entscheidende Faktor geworden ist, der alle Bereiche bestimmt, war es nur folgerichtig, dass ein Milliardär zum Präsidenten gewählt wurde. Bidens Aufgabe wird nun sein, darüber nachzudenken, wie man der Deregulierung in den nächsten Dekaden wieder Einhalt gebieten kann.

Ein alter Mann als Hoffnungsträger für einen langen Weg?

Bidens Entscheidung, Kamala Harris als Vizepräsidentin zu bestimmen, setzt da ein Zeichen. Ich halte Harris für den geheimen Star der Wahl. Sie verkörpert mit ihren 56 Jahren im Vergleich zu den beiden alten Herren die neue Generation. Sie ist Sympathieträgerin und kämpft für ein anderes Amerika. Die Tatsache, dass ihre Mutter aus Indien und ihr Vater aus Jamaika stammen, macht sie auch zu einer wichtigen Integrationsfigur für nicht-weiße Amerikaner. Als Anwältin kämpft sie für das Recht, aber nicht das des Stärkeren. Sie kämpft gegen sexuelle Gewalt, die Todesstrafe, für die Rechte von People of Color und der LGBTQ-Community. Harris ist die erste Vizepräsidentin in der Geschichte der USA.  Trotz des knappen Wahlausgangs und der zu erwartenden Paralyse im Senat ist es nicht undenkbar, dass die Präsidentschaft unter Biden und Harris die Weichen für eine andere, grüne Zukunft stellt.

Mit Trump wird auch der rüpelhafte angeberische Habitus verschwinden?

Er hat als Erfolgsmodell ausgedient. Meines Erachtens kann man in Zukunft mit Härte keine Wahlen mehr gewinnen. Neue Figuren wie Alexandria Ocasio-Cortez von der Demokratischen Partei stehen parat. Biden wird ein gutes Team um sich scharen und auch jüngere Politikerinnen und Politiker einbeziehen. New green deal, Black lives matter – da formiert sich etwas in den USA.

Falls Trump nicht doch noch einen Bürgerkrieg vom Zaun bricht…

Ach was, die Apokalypse ist ausgeblieben und die Demokratie hat erstmal gesiegt. Dieses enge Kopf-an-Kopf-Rennen zeigt wieder einmal, wie wichtig die demokratische Grundregel ist: Jede Stimme zählt.