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Ich höre, also bin ich

Den Klängen der Umwelt kann niemand entrinnen – die Sound Studies erforschen die unterschiedlichen Effekte von Geräuschen

Freiburg, 06.10.2020

Der Kunsthistorikerin Desirée Düdder-Lechner beschäftigt sich mit Phänomenen, deren Relevanz für die Wissenschaft vor nicht allzu langer Zeit noch angezweifelt wurde: das Knistern einer Chipstüte etwa, das Knacken des Geigerzählers oder das ferne Läuten der Kirchenglocken in der Erinnerung an die Kindheit. In der zunehmend planvoll gestalteten akustischen Gegenwart jedoch haben die einst so exotischen Sound Studies längst ihren Ort gefunden. Am Institut für Medienkulturwissenschaft der Universität Freiburg bilden die Sound Studies einen Forschungsschwerpunkt.

Durch bestimmte Sounds lässt sich eine akustische Verknüpfung von Objekten mit Gefühlen, von Klängen mit Bildern erreichen. Foto: pixelshot/stock.adobe.com

Vor ein paar Tagen hatte Desirée Düdder-Lechner lange am Schreibtisch gesessen und wollte am Nachmittag noch einmal eine Runde um den Block drehen. Auf den Straßen war nichts los. Für die junge Forscherin war dieser Spaziergang eine unbeabsichtigte Exkursion in ein längst bekanntes und doch ungewohntes Terrain. „Ich hörte keine Autos, keine Flugzeuge, kein Surren der Straßenbahn – nur Vogelgezwitscher und das Gluckern der Gullis“, sagt sie. Das aber sei so klar gewesen, dass sie es kaum habe glauben können. „Selten hatte ich ein derart intensives Hörerlebnis.“

Das will etwas heißen. Die Kunsthistorikerin beschäftigt sich am Institut für Medienkulturwissenschaft der Universität Freiburg nämlich mit Fragen des Klangs in Kunst, Kultur und Alltag. Ihr Forschungsfeld Sound Studies ist noch relativ jung. Erste interdisziplinäre Ansätze einer wissenschaftlichen Beschreibung und Analyse von Hörphänomenen abseits der Musik wurden in den späten 1960er Jahren entwickelt. Zeitgleich begannen Künstlerinnen und Künstler aus der Fluxus-Bewegung, Klang als Material und Medium ihrer Performances, Installationen und Videoarbeiten zu nutzen. Dabei ließen sie sich von radikalen Werken inspirieren. Mit einem tonlosen Stück machte zum Beispiel der US-amerikanische Künstler und Komponist John Cage die Zuhörenden zum Publikum der von ihnen selbst und anderen zufälligen Quellen verursachten Umgebungsgeräuschen.

Absolute Stille gibt es nicht

Für Düdder-Lechner ist es diese Qualität der Unentrinnbarkeit, die Sound als Forschungsgegenstand so spannend und ergiebig macht. „Noch vor allen anderen Sinnen ist es die Klangwahrnehmung, die uns schon im Mutterleib Kontakt zur Umwelt aufnehmen lässt“, sagt sie. „Wir sind von Sounds umgeben, jeden Tag und an nahezu jedem Ort.“ Mal sind sie technisch erzeugt, mal von Lebewesen oder von natürlichen Phänomenen wie Wind und Regen. Nie aber bleiben die Sounds aus – absolute Stille gibt es nicht, es sei denn im Tod. Und vor allem: Nie bleiben Klänge ohne Wirkung.

Diesen Effekten von Sounds auf die Spur zu kommen, sie zu analysieren und nutzbar zu machen für ein besseres Verständnis der Welt, für die Fokussierung von Aufmerksamkeit oder die akustische Markierung von Handlungen oder Produkten gehört zu den Kernthemen der Sound Studies. Das aktuelle, weit über den wissenschaftlichen Kontext hinausweisende Interesse an Sound Studies erklärt sich Düdder-Lechner mit dem Wunsch, den körperlosen, glatten Oberflächen der digitalen Sphäre die sinnliche Erfahrbarkeit der Welt entgegenzusetzen. So wie im Produktdesign das Haptische des Materials wieder als Zeichen des Authentischen in den Blick gerate, gehe es im Sound Design um die akustische Verknüpfung von Objekten mit Gefühlen, von Klängen mit Bildern.

Sound wird dabei meist gezielt zur Schaffung von Atmosphäre eingesetzt, sei es in Filmen wie „Apocalypse Now“ – dem soundtechnisch wegweisenden Antikriegsdrama von Francis Ford Coppola, dessen beunruhigender Soundtrack das Kinopublikum in das Geräuschumfeld der Schlachtfelder von Vietnam versetzte –, sei es, um bestimmte mentale Bilder, Erinnerungen oder Gefühlszustände zu triggern oder die mediale Konstruktion von Wahrheit und Wahrnehmung sichtbar zu machen wie in den Arbeiten des Film- und Videokünstlers Bjørn Melhus, über den Düdder-Lechner derzeit ihre Dissertation schreibt.

Akustisches Marketing

Das Ohr ist das Instrument, mit dem der Mechatroniker Dysfunktionen eines Motors erkennt, der Obsthändler die Reife einer Melone, die Ärztin eine sich anbahnende Bronchitis. Zugleich ist es das Organ, welches das akustische Produktdesign nutzt, um die Geschmacksnerven von potenziellen Käuferinnen und Käufern zu stimulieren: Wenn in der Werbung jemand krachend in eine Handvoll Chips beißt, wird der Appetit geweckt. Wenn eine schwere Autotür mit einem satten Klang zuschnappt, erzeugt das ein Gefühl von Sicherheit.

„Markenführung durch Klang ist inzwischen allgegenwärtig“, sagt Düdder-Lechner – besonders präsent etwa im Design der Klingeltöne und Funktionssignale unterschiedlicher Betriebssysteme. „Das dient nicht nur der Wiedererkennung, sondern schreibt sich bei der täglichen Nutzung von Desktops oder Smartphones durch permanente Wiederholung so tief ins Unbewusste ein, dass man wie beim Reifenquietschen von einer körperlichen Einlagerung von Hörereignissen sprechen kann. Je nach Geräusch reagieren wir alarmiert, aufmerksam, gut gelaunt oder entspannt.“

Das Geräusch als Exponat

Ausgehend von den Ergebnissen ihrer Dissertation will Desirée Düdder-Lechner nun über den Umgang mit Sound im Ausstellungskontext forschen. Für viele sei das Museum ein stiller Ort, sagt sie. Doch das ist es höchstens dann, wenn sich niemand in den Räumen aufhält. Mehr noch als die unweigerlich anfallenden Sounds in Museen interessiert sie die Vorstellung des Geräuschs als Exponat. „Wie müsste eine Ausstellung konzipiert sein, die statt Bildern oder mit Bildern Klänge präsentiert?“, fragt die Kunsthistorikerin. Das Visuelle sei nur eine der möglichen Erscheinungsformen von Kunst. Deshalb sei es wichtig, zu überlegen, in welcher Weise auch Sound im Museum mehr Raum einnehmen könne.

Derzeit befindet sich Düdder-Lechner noch mitten in der Recherchephase. Ein Ausstellungshaus, in dessen Architektur bereits Erkenntnisse aus den Sound Studies eingingen, ist das Münchner Museum Brandhorst. Die aus farbigen Keramikstäben zusammengesetzte Fassade ist geräuschabsorbierend. Damit trägt der Bau zur Verminderung des Lärms an der viel befahrenen Kreuzung im Pinakotheken-Viertel bei. Und auch die Besucherinnen und Besucher der Ausstellung profitieren indirekt von den Sound Studies. Etwa wenn sie sich per Audioguide von einer Stimme durch die Säle des Museums führen lassen, die sich zwischen den Kopfhörermuscheln in intime Klangräume verwandeln und durch diese Nähe eine intensive Verbindung zwischen Hören und Sehen herstellen.

Dietrich Roeschmann