Hüpfen wie die Heuschrecke
Freiburg, 19.03.2019
War ja nett gemeint von Konrad Lorenz: Als das Schöpfungskrönchen des Menschen vor lauter Neid auf Gazelle, Affe und Delfin wackelte, tröstete der legendäre Verhaltensforscher ihn mit der Versicherung, dass er im Dreikampf von Laufen, Klettern und Schwimmen locker alle drei besiegen würde. Aber wäre es nicht noch netter, wenn der Mensch auch wie eine Heuschrecke springen könnte? Dr. Stefan Schiller vom Zentrum für Biosystemanalyse (ZBSA) der Universität Freiburg arbeitet daran.
Weiter, höher, schneller: Ein Turnschuh mit einer Sohle aus einem elastischen Protein, das von der Heuschrecke produziert wird, könnte den Menschen zu athletischen Spitzenleistungen befähigen. Illustration: Svenja Kirsch, Foto: Winyu/stock.adobe.com
„Auf menschliche Verhältnisse übertragen, entspräche die Leistung des Insekts einem Weitsprungvermögen von rund 200 Metern“, sagt Stefan Schiller. Das hat er einmal für einen Science Slam ausgerechnet, bei dem er seine Arbeit als Spezialist für bionische Chemie und synthetische Nanobiologie dem Publikum auf unterhaltsame Weise näherbrachte.
Das Beispiel mit der Heuschrecke veranschaulicht Schillers Forschung unter dem Dach des neuen Freiburger Exzellenzclusters livMatS – Living, Adaptive and Energy-autonomous Materials – sehr gut, denn eine Grundidee des Clusters ist, sich bei der Entwicklung neuer Materialien von der Natur inspirieren zu lassen. In Schillers Fall waren Heuschrecke und Floh die Ideengeber. Diese Insekten verfügen über etwas, das Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler „mechanisch aktive Materialsysteme mit extremen Eigenschaften für anspruchsvolle Funktionen“ nennen. Wer Comics liest und mit Spider-Man, Ant-Man und The Wasp aufgewachsen ist, darf das ruhig mit „Superkräfte“ übersetzen.
Schiller bevorzugt den Begriff „Ultraeigenschaften“. Bei den Heuschrecken sitzen sie in den Sprunggelenken, genauer gesagt, in einem von ihrem Körper produzierten Protein namens Resilin. Dieses Protein ist nahezu vollkommen elastisch, was bedeutet, dass die mechanisch zugeführte Energie quasi komplett wieder abgegeben wird. Hätte ein Mensch Turnschuhe mit einer Sohle aus Resilin, nähme seine Sprunghöhe nach jeder Berührung mit dem Boden zu. Beim Science Slam hatte Schiller bereits ein entsprechendes Reisebüro vorgeschlagen, das für den nächsten Wochenendtrip empfiehlt, den Feldberg nicht zu überfliegen, sondern mal zu überspringen.
Maßgeschneiderte Metamaterialien
Bis zum marktfähigen Turnschuh dauert es noch, aber nicht mehr allzu lange. Als Schiller anfing, gab es nur wenige Methoden, Eiweißsequenzen so maßzuschneidern, dass am Ende Proteine mit den gewünschten Eigenschaften herauskamen. Proteine sind komplexe Gebilde, bei denen nicht nur die Zusammensetzung, sondern auch die Art der Faltung die Eigenschaften beeinflusst. Also legten Schiller und seine Kolleginnen und Kollegen zunächst Bibliotheken von Eiweißsequenzen an, mit definierten Längen und möglichen Kombinationen in Bezug auf unterschiedliche Eigenschaften. Auf dieser Grundlage können Forschende durch die Kombination neuer Technologien komplexe Moleküle von genetisch veränderten Zellen in großen Mengen zu mechanisch aktiven Materialmikrostrukturen maßschneidern und mit einer nahezu beliebigen 3-D-Struktur versehen. Für die Entwicklung dieser nächsten Generation biotechnologischer Verfahren wurde Schiller 2014 mit einem Preis des Bundesministeriums für Bildung und Forschung ausgezeichnet. Für die weiterführende Materialforschung hat die Baden-Württemberg Stiftung die Finanzierung übernommen.
Mit diesen Verfahren lassen sich nicht nur Materialien mit Ultraeigenschaften erzeugen, sondern durch Eingriffe in die innere Struktur auch so genannte Metamaterialien. Diese sollen über ihre Eigenschaften – beispielsweise Ultraelastizität – hinaus auch auf Umwelteinflüsse wie Temperaturschwankungen oder Feuchtigkeit reagieren können. Das wäre der „adaptive“ Teil, auf den der Exzellenzcluster abzielt. „Für den ultraelastischen Turnschuh wird eine Eigenschaftsveränderung bei Feuchtigkeit eher nicht erwünscht sein, bei Dichtungsmaterialien sieht es schon anders aus“, erläutert Schiller. Wissenschaftler sprechen begeistert von neuen 4-D- und 5-D-Materialien, die allein durch ihre Beschaffenheit autonom auf Umwelteinflüsse reagieren und beispielweise unter vorgegebenen Bedingungen Bewegungen ausführen können, für die man sonst Maschinen braucht.
Biologisch hergestellt, biologisch abbaubar
„Da berühren wir den Nachhaltigkeitsaspekt, ein weiterer zentraler Baustein von livMatS“, sagt Schiller. Die Materialzyklen sollen möglichst weitgehend auf biobasierten Prozessen beruhen. In der klassischen Ökonomie würde man sich die Produktion von ultraelastischen Turnschuhen etwas überzeichnet so vorstellen, dass man eine Maschine baut, die Heuschreckensprunggelenke mit hohem Aufwand an fossiler Energie in Sprungsohlen verwandelt. Schillers Vorgehen ist anders. Er identifiziert zunächst die für die Ultraeigenschaft entscheidende Proteinsequenz. Das Resilin der Heuschrecke wäre für diese Zwecke unnötig komplex.
Geeigneter ist das einfachere, auch in der menschlichen Haut vorkommende Elastin, das von entsprechend veränderten Zellen in großer Menge biologisch hergestellt werden kann. Dann werden die geeigneten Sequenzen und Strukturelemente herausgenommen, wunschgemäß kombiniert und in eine genetische Codierung übersetzt, mit der man dann Zellen füttert und sie so dazu bringt, das gewünschte Material zu produzieren.
Die Materialerzeugung erfolgt also biologisch, und auch das eiweißbasierte Endprodukt ist biologisch und kann in natürlichen Stoff- und Energiekreisläufen abgebaut werden. Solche Materialkreisläufe könnten in Zukunft ein wichtiger Schritt aus der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen sein. Und vielleicht, um es noch mal in die Bildsprache der Comics zu übersetzen, hüpfen Menschen einst dank Stefan Schillers Forschung heuschreckenartig und völlig abgasfrei auf Siebenmeilensohlen in den Urlaub.
Jürgen Reuß