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Geheimrezeptur im Erbgut

Am X-Chromosom der Fruchtfliege zeigt Asifa Akhtar, wie Epigenetik funktioniert – auch beim Menschen

Freiburg, 15.03.2021

Was die Biologin Dr. Asifa Akhtar erforscht, gleicht einer Kommentarfunktion im Genom. Für die Entschlüsselung der epigenetischen Prozesse in Fruchtfliege und Mensch erhielt sie den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis 2021 der Deutsche Forschungsgemeinschaft.


Asifa Akhtar entschlüsselt, wie Zellen die Menge an Eiweiß regulieren, die von einem Gen hergestellt wird.  Foto: MPI für Immunbiologie und Epigenetik, Rockoff

Asifa Akhtar zeigt auf das Bild eines Gewirrs von fingerartigen tiefblauen Schnüren, den Chromosomen. Eines davon sticht leuchtend gelb hervor. „Das hier ist das X-Chromosom“, erklärt die Biologin. „Wir sagen zu den gelben Markierungen, dass es dekoriert ist.“ Für die Fruchtfliege, deren Erbgut erst mit Färbungen in Blau und Gelb unter dem Mikroskop sichtbar wird, ist dieser ungewöhnliche Schmuck, von dem die Forscherin berichtet, lebensnotwendig. Chromosomen sind Bündel von DNA. Um spezielle Eiweiße namens Histone gewickelt, nennen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das Erbgut in dieser Form Chromatin. Während der blaue Farbstoff das gesamte Chromatin kennzeichnet, markiert der gelbe Farbstoff eine epigenetische Veränderung: Erkenntnisse über diese Modifikationen der DNA ermöglichen, beim Menschen Erbkrankheiten und Krebs besser zu verstehen. Diese Mechanismen steuern nämlich, wie stark Gene in den Zellen des Körpers abgelesen und in Eiweiße übersetzt werden. Akhtar ist überzeugt: „Es ist auch der Schlüssel, um zu erklären, wie unsere Umwelt auf Entwicklung und Stoffwechsel einwirkt.“

Die Molekularbiologin forscht mit ihrem Team am Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg. Sie ist Mitglied in den Zentren für Signalstudien BIOSS und CIBSS sowie in Sonderforschungsbereichen der Universität. Im Sommer 2020 wurde sie zur Vize-Präsidentin der Max-Planck-Gesellschaft ernannt, und im Dezember verlieh ihr die Deutsche Forschungsgemeinschaft den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis für ihre Arbeiten in der Epigenetik. Das X-Chromosom spielte dabei eine Hauptrolle.

Genprodukte in der richtigen Dosis

Wenn während der Entwicklung einer Fruchtfliege der Mechanismus fehlt, der eines der X-Chromosomen dekoriert, sterben die männlichen Nachkommen. Sowohl bei Fliegen als auch beim Menschen liegen die meisten Chromosomen paarweise vor: eines von der Mutter , eines vom Vater. Eine Ausnahme bilden aber die so genannten Geschlechtschromosomen: Bei Säugetieren besitzen genetisch weibliche Tiere zwei X-Chromosomen, männliche jedoch nur ein X-Chromosom und zusätzlich ein kleines Y-Chromosom. „So ist es auch bei den Fruchtfliegen“, erklärt die Forscherin. „Die Weibchen besitzen sowohl bei Menschen als auch bei Fliegen zwei Kopien der Gene des X-Chromosoms, also doppelt so viele wie Männchen.“ Das aber stellt ein Problem für den Organismus dar. Denn die doppelte Anzahl an Genen würde bedeuten, dass die Zelle die doppelte Dosis an Genprodukten herstellt, für die diese Gene kodieren: Ein Ungleichgewicht, dass die Forschenden so aber nicht beobachten. Die epigenetische Dekoration, erklärt Akhtar, gleicht in Wahrheit das fehlende X-Chromosom der Männchen aus. Es steigert die Produktion von Eiweißen auf dem einzelnen männlichen X-Chromosom um ziemlich genau das Doppelte. Bei Säugertieren hingegen wird diese Eiweißproduktion beim Weibchen auf einer der Kopien des X-Chromosoms heruntergefahren. Somit erreicht der Organismus die optimale Dosis an Genprodukten.

Wie genau der Ausgleich der Gendosis am X-Chromosom funktioniert, erforscht die Freiburger Biologin seit 20 Jahren. „Es ist wie eine Zwiebel, die man immer weiter schält. Es kommen stets neue Aspekte zum Vorschein.“ Die gelben Markierungen machen eigentlich einen Proteinkomplex sichtbar: Eiweiße, die unsere Genaktivität steuern können und auf Signale reagieren. „Die Epigenetik erlaubt die Anpassungsfähigkeit der Organismen“ erklärt Akhtar. Die Gene, für die das Erbgut kodiert, werden unterschiedlich abgelesen, je nachdem ob ein Stammzelle etwa zur Darm- oder Nervenzelle auswächst. „Wir wissen mittlerweile, dass die Dosis eines Genprodukts während der Entwicklung eine wichtige Rolle spielt und die Umwelt diese Entwicklung beeinflussen kann“, sagt Akhtar. Ein besseres Verständnis der epigenetischen Genregulierung liefert auch Anhaltspunkte für Krebsbehandlungen im Menschen, denn auch an den erkrankten Zuständen von Tumorzellen sind epigenetische Prozesse beteiligt.

Kommentare an der DNA

Mittlerweile sind viele Prozesse bekannt, die in die Produktion der Eiweiße eingreifen. Im Fall von Akhtars Forschungsobjekt, dem X-Chromosom der Fruchtfliege, bindet ein kleines organisches Molekül – eine Azetylgruppe – an die Histone. Diese Eiweiße ordnen das lange Band des Erbguts. Das Andocken der Azetylgruppe löst dieses Band etwas ab, sodass die Zellmaschinerie die Gene besser lesen kann – es wird mehr von dem Genprodukt hergestellt. „Diese Azetylierungfindet keineswegs nur am X-Chromosom statt“, führt Akhtar aus. „Tausende Gene werden dadurch moduliert - und das beim Menschen genauso wie bei der Fliege.“

Aber wie erkennt dieser Proteinkomplex, an welches Chromosom und an welches Gen er sich heften muss? Welche molekularen Signale lenken die chemischen Markierungen? Diese Fragen beschäftigen Akhtar und ihre Arbeitsgruppe. Sie untersuchten das Enzym, das diese Markierungen herbeiführt: Eine Histon-Azetyltransferase mit der Abkürzung MOF – was für „male absent on the first protein“ steht. MOF steuert das Anheften der Azetylgruppe an die Histoneiweiße. „Dieses Enzym findet sich bei Fliegen und Menschen. Dank Vergleichen über verschiedene Stufen der Evolution, verstehen wir, wie diese epigenetische Regulierung genau funktioniert“. So fand Akhtar heraus, dass eine Entwicklungsstörung beim Menschen auf die Veränderung solcher Regulatoren zurückzuführen ist – das gab Anlass zur Hoffnung für zukünftige Behandlungsmöglichkeiten des nach ihr benannten „Basilicata-Akhtar Syndroms“. Denn die epigenetische Fehlregulationen, die bei dieser seltenen Erkrankung schwere körperliche und geistige Entwicklungsstörungen hervorruft, können zumindest theoretisch medikamentös rückgängig gemacht werden.

Über den Zellkern hinaus

Vor wenigen Jahren entdeckte die Wissenschaftlerin eine weitere Seite von MOF: Das Enzym ist nicht nur im Zellkern aktiv, sondern auch in den Mitochondrien. Auch dort findet sich nämlich DNA. Und auch hier reguliert MOF die Genaktivität. „Das war eine besonders spannende Entdeckung. Wir arbeiten nun daran zu verstehen, wie die Epigenetik den Stoffwechsel beeinflusst“, erklärt sie. Das Team fand bereits heraus, dass das MOF sowohl die Haushaltsgene, wie Akhtar sie nennt, im Kern als auch die Zellatmung in den Mitochondrien steuert.

Den Haushalt einer Zelle vergleicht die Biologin mit einer Restaurantküche. Die Chefköchin oder der Chefkoch sollten wissen, was im Lager ist und was bestellt werden muss, bevor sie anfangen, Gerichte vorzubereiten. Die Genregulation im Zellkern ist eng mit dem Stoffwechselhaushalt der Zelle verwoben. Ändert sich der Stoffwechsel einer Zelle, zum Beispiel durch den Mangel an bestimmten Nährstoffen, müssen die Haushaltsgene reagieren. Die Tageskarte des Restaurants muss angepasst werden. Um herauszufinden, wie genau diese Verbindung abläuft, nutzt Akhtar neue Technologien aus der Mikroskopie und Genomik wie die Einzelzellsequenzierung etwa von Eizellen der Fliegen: „So erhalten wir immer genauere Information, wie und wo MOF bindet, was molekular an der Stelle passiert und welche Gene reguliert werden.“

Geschält ist die Zwiebel also noch lange nicht. Erst im Sommer 2020 machte Akhtar in Fliegeneiern wieder eine überraschende Entdeckung: Die Histon-Azetylierungen der mütterlichen Gene – also die Kommentare für die Genküche – werden in der Eizelle an die Embryonen weitergegeben und sind entscheidend für deren zukünftige Entwicklung. Das Rezeptbuch der Mutter tragen die kleinen Fliegen sozusagen im Genom.

Mathilde Bessert-Nettelbeck

 

www.ie-freiburg.mpg.de

www.ie-freiburg.mpg.de/mof