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Flexible Ränder

Die Europäische Union setzt ein System zur Grenzüberwachung ein und schafft damit eine Außengrenze, die es rechtlich nicht gibt

Freiburg, 22.10.2018

Flexible Ränder

Foto: Savvapanf Photo/Fotolia

Die Mitgliedstaaten der EU haben keine gemeinsame Einwanderungspolitik – trotzdem sammelt die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache Informationen zu so genannten „grenzrelevanten Vorfällen“ aus allen EU-Ländern. Gefälschte Papiere, ein Drogenfund, ein nicht autorisierter Grenzübertritt? Es ist längst nicht klar, was solch einen Vorfall eigentlich ausmacht und wie er in den einzelnen Staaten bewertet wird. Das System zur Grenzüberwachung schaffe in der Öffentlichkeit ein Bild von einer europäischen Außengrenze, mahnt die Soziologin Sabrina Ellebrecht. Dabei gibt es diese Außengrenze nicht.


EUROSUR, das europäische System zur Grenzüberwachung, schaffe in der Öffentlichkeit ein Bild von einer europäischen Außengrenze, sagt Sabrina Ellebrecht. Foto: Savvapanf Photo/Fotolia

Wie entsteht die Außengrenze der Europäischen Union? Diese Frage irritiere viele, die sie zum ersten Mal hörten, sagt Sabrina Ellebrecht. „Wieso? Die Grenze gibt es doch schon“, sei häufig die Antwort. „Doch wenn man genau hinsieht, stellt man fest: Die gibt es eben nicht“, erklärt die promovierte Soziologin vom Centre for Security and Society der Universität Freiburg. „Politisch und rechtlich gesehen haben wir lediglich die nationalen Grenzen und das Schengener Abkommen.“ Grenzkontrollen finden im Sinne dieses Abkommens nicht mehr zwischen zwei EU-Staaten statt, sondern nur noch dort, wo ein Schengenstaat an ein Nichtmitglied der EU grenzt. „Diese Ränder nehmen wir als EU-Außengrenze wahr, doch die Grenzen zwischen einem EU-Staat und einem Nicht-EU-Staat lassen sich nicht einfach additiv zu einer Außengrenze verbinden“, betont Ellebrecht.

28 Länder mit verschiedener Einwanderungspolitik

Wie kommt es also, dass es in der europäischen Öffentlichkeit trotzdem die Idee einer gemeinsamen Außengrenze gibt? Und wie sehen das eigentlich die Beamtinnen und Beamten der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache „Frontex“ sowie die nationalen, polizeilichen Grenzschutzbehörden? Wessen Grenze wird durch wen kontrolliert? Und wo wird entschieden, welches Einwanderungs- und Asylgesetz Anwendung findet, wenn ein Flüchtlingsboot im Mittelmeer aufgegriffen wird? In Brüssel, auf Lampedusa, in Sizilien oder in der jeweiligen nationalen Hauptstadt?

All diesen Fragen ging Ellebrecht in ihrer Dissertation nach. Dazu analysierte die Wissenschaftlerin die Entwicklung des Europäischen Grenzüberwachungssystems EUROSUR, das seit Dezember 2013 im Einsatz ist. Das von der Europäischen Kommission initiierte Projekt soll alle Informationen sammeln, die in den einzelnen Nationalstaaten an ihren Grenzen anfallen. Doch was solch einen „grenzrelevanten Vorfall“ eigentlich ausmacht – zum Beispiel gefälschte Papiere, ein Drogenfund oder ein nicht autorisierter Grenzübertritt – und wie einzelne Vorfälle bewertet werden, ist in den Mitgliedstaaten keinesfalls einheitlich.


Die Bilder von den Flüchtlingsbooten im Mittelmeer sind der Forscherin zufolge zu einem gemeinschaftlichen europäischen Bild der Bedrohung geworden. Foto: alexyz3d/Fotolia

EUROSUR bietet eine Eingabemaske, um nationale Vorfälle in ein europäisches Bewertungsschema einzuordnen. Auf dieser Basis ermöglicht das System dann den Austausch über ein gemeinsames Lagebild, indem die Vorfälle in einem geografischen Informationssystem visualisiert werden. Der polnische Grenzbeamte zum Beispiel sieht auf der Karte, was gerade im Mittelmeer passiert. Diese simple Idee sei aber schon im Vorfeld belastet gewesen, hebt Ellebrecht hervor: Die 28 beteiligten Länder haben keine gemeinsame Einwanderungspolitik, sollen bei einem entsprechenden Vorfall aber den Menüpunkt „unauthorised border crossings“ anklicken. Dabei wird solch ein „unbefugter Grenzübertritt“ in den Mitgliedstaaten rechtlich unterschiedlich bewertet: In einigen wenigen Staaten sei ein illegaler Grenzübertritt eine Straftat, in den anderen eine Ordnungswidrigkeit. Hinzu komme, dass sich nicht jeder Staat hinsichtlich der nationalen Grenzschutzmaßnahmen gerne in die Karten schauen lasse. „Man weiß also nicht, wer seine Informationen nach welchen Gesichtspunkten in das System einspeist“, bilanziert Ellebrecht.

Rettungsaktionen können missbraucht werden

In den ersten Jahren des EUROSUR-Betriebs stammten etwa 70 Prozent der Einträge von der Grenz- und Küstenwache Frontex. Entsprechend steigt die Definitionsmacht der Agentur darüber, was für den europäischen Grenzschutz relevant ist. Die Visualisierung der national gesammelten Informationen und Daten in einem gemeinsamen Lagebild präge entscheidend die Vorstellung einer gemeinsamen Außengrenze, sagt die Soziologin. „Mittelfristig soll das System den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dann zum Beispiel nicht mehr einen Grenzübertritt nach Italien, sondern nach Europa anzeigen.“

EUROSUR soll – so die politische Sprachregelung – dabei helfen, die Migration über das Mittelmeer durch bessere Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen einzuschränken und die Zahl der Toten zu reduzieren. „Hier liegt genau die Ambivalenz dieses Überwachungssystems: Sicherheits- und Kontrollmaßnahmen, die Migration verhindern sollen, können nicht gleichzeitig ein humanitäres Ziel verfolgen“, hebt Ellebrecht hervor. „Tun sie es doch, können Rettungsaktionen zum Beispiel dazu missbraucht werden, flüchtende Bootsinsassen nach Libyen zurückzubringen. Das humanitäre Ziel wirkt dann ermächtigend im Sinne des Grenzschutzes und nicht im Sinne der Rettung.“ Kontrollierende Behörden könnten den Tatbestand „Seenot“ auch als Ausrede zum Eingreifen benutzen, mahnt Ellebrecht: „Bei einem sich in Seenot befindlichen Boot ist das ja jederzeit in allen Gewässern möglich.“

Die Bilder von den Flüchtlingsbooten im Mittelmeer sind der Forscherin zufolge zu einem zentralen gemeinschaftlichen europäischen Bild der Bedrohung an den südlichen Außengrenzen der EU geworden, das im öffentlichen Diskurs flexibel genutzt wird. „Wir haben also einen gemeinsamen europäischen Anderen, gleichzeitig steht eine Einigung auf ein gemeinsames, europäisches Einwanderungs- und Asylrecht seit 1990 aus. Und in dieser Gemengelage entsteht die Idee einer EU-Außengrenze – ohne ein europäisches Territorium.“

Claudia Füßler