Ersatzzähne sollen 60 Jahre lang halten
Freiburg, 18.09.2017
Zähne, auch Ersatzzähne, müssen jedes Jahr etwa 250.000 Bisse aushalten. Entsprechend müssten Implantate aus einer neuen Keramik für Zahnersatz 15 Millionen Mal Kauen locker wegstecken: Sie sollen über 60 Jahre halten. Das haben acht Freiburger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Prof. Dr. Ralf Kohal, fachliche Professorenvertretung an der Klinik für Zahnärztliche Prothetik, und Dr. Brigitte Altmann, Leiterin des Wissenschaftlichen Labors an der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie (MKG) getestet. „Die neuen Implantate sind ein echter Fortschritt", sagt Zahnmediziner Kohal. Biologin Altmann freut sich besonders darüber, dass sowohl Tests mit Zellkulturen als auch Tierstudien zum gleichen Ergebnis führten.
Mithilfe einer Kaumaschine haben Brigitte Altmann und Ralf Kohal die physikalische Stabilität von Materialien für Zahnersatz getestet.
Foto: Klaus Polkowski
Zahlreiches Beißen setzt Implantaten tatsächlich kaum zu, erklärt Kohal: „Nur ein sehr geringer Teil bricht." Viel häufiger richten Bakterien Schäden an. Durch sie entzündet sich Gewebe rund um das Implantat. So kann Knochensubstanz verloren gehen – und der Zahnersatz. „In der Regel wächst Knochen aber gut auf Implantate auf", sagt Kohal. Fast 95 Prozent der gängigen Zahnersatzimplantate halten mindestens zehn Jahre. Somit droht dennoch einem von 20 Patienten im ersten Jahrzehnt ein lästiger Austausch.
Das europäische LONGLIFE-Projekt, an dem Forscherinnen und Forscher aus fünf Nationen teilnahmen, wollte diese Zahl senken und die Lebenserwartung von Zahnersatzimplantaten verlängern. Die Initiatorinnen und Initiatoren des Projekts luden drei Freiburger Kliniken zur Teilnahme ein: die Zahnärztliche Prothetik, die Klinik für Zahnerhaltungskunde und Parodontologie sowie die Abteilung für Orale Biotechnologie. Sie sollten jene Materialien biologisch prüfen, die aus Belastungstests französischer, italienischer und schwedischer Materialforscher als stabilste hervorgegangen waren.
Zehn Varianten untersucht
„Wir haben zehn Varianten untersucht, die aus unterschiedlichen Materialien bestanden oder verschiedene Oberflächenstrukturen hatten", sagt Altmann. Eine Kaumaschine hat ermittelt, wie stark Kauen unter Wassereinfluss die Implantate beanspruchen. Parallel besiedelten die Forscher spezielle Testkörper, die Implantaten entsprechen, in Kulturschalen mit Knochen- und Weichgewebszellen. Die wuchsen bei vier der Varianten besonders gut an. „Mit denen haben wir Genexpressionsanalysen durchgeführt", so die Biologin. Die Wissenschaftler schauten, wie sich bestimmte Biomarker – etwa solche für Entzündungen oder für Knochenwachstum – verhalten, wenn die Implantatmaterialien anwesend sind. Schließlich mussten sich die drei aussichtsreichsten Implantat-Kandidaten in Tierstudien beweisen. Zudem untersuchten Dr. Lamprini Karygianni und Prof. Dr. Ali Al-Ahmad aus der Klinik für Zahnerhaltungskunde, ob die Oberflächen der Ersatzmaterialien das Wachstum von Speichelbakterien fördern.
Nachteile eliminiert, Vorteile gewonnen
„Wir haben alle Nachteile der Vorläufer eliminiert, aber ihre Vorteile erhalten und neue dazugewonnen", fasst Kohal die Ergebnisse zusammen. Der „Testsieger", eine spezielle neuartige Zirkonoxid-Keramik, widersteht der Alterung im Wasser besser als sämtliche Vorgänger. Die neuen Implantate sind stabil, schließen winzige Fehlstellen selbstständig und weisen Bakterien ab. Dagegen lagern sich Knochenzellen hervorragend an. „Ein tolle Sache", findet Kohal. Altmann war darüber hinaus begeistert, dass Zellkultur und Tiermodell am Ende zum identischen Ergebnis kamen – zum besten Implantatmaterial: „Wir können uns über bestimmte Zellkulturversuche an optimale Materialien herantasten und dadurch die Zahl von Tierversuchen verringern."
Die Strategie und das neue Material kommen grundsätzlich auch für Implantate an Wirbelsäule und Hüfte in Betracht. „Aber allein bis zur breiten Anwendung im Mund werden sicher noch zwei Jahren vergehen", sagen Kohal und Altmann. Vorher stehen noch Untersuchungen in der Klinik an. Sie sollen ebenfalls in Freiburg laufen. Erst dann lässt sich die biologische Lebenserwartung genau vorhersagen. Die physikalische Stabilität kann Ralf Kohal aber schon jetzt durch die Tests mit der Kaumaschine prognostizieren: „Sie liegt sicher im Bereich von 60 Jahren." Das wäre ja schon genug, um den weitaus meisten Patientinnen und Patienten zeitlebens Sorgen über einen Implantataustausch zu ersparen.
Jürgen Schickinger
LONGLIFE
Das von der Europäischen Union geförderte Projekt LONGLIFE hatte zum Ziel, neuartige Implantate auf der Basis von Keramiken mit dem Mineral Zirkon zu entwickeln. Die neuen Materialien sollten zuverlässiger sein als herkömmliche, eine Lebenserwartung von mehr als 60 Jahren haben und sich für Implantate zum Zahnersatz und für Implantate an der Wirbelsäule eignen. Zum internationalen Konsortium gehörten mittelständische Unternehmen aus fünf Nationen und universitäre Einrichtungen aus drei europäischen Ländern. Die Gruppe der Freiburger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vom Universitätsklinikum setzte sich zusammen aus: Dr. Brigitte Altmann, Privatdozentin Dr. Lamprini Karygianni, Prof. Dr. Ali Al-Ahmad, Privatdozent Dr. Frank Butz, Dr. Maria Bächle-Haas, Ph.D. Marie Follo, Prof. Dr. Thorsten Steinberg und Prof. Dr. Ralf Kohal. Die mit LONGLIFE verbundenen Drittmittel für die Freiburger Forscherinnen und Forscher beliefen sich auf knapp eine halbe Million Euro.
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