Die Mode der Mipster
Freiburg, 22.11.2018
Ist der Islam modern oder rückständig, vielfältig oder stromlinienförmig? Welches Bild sich Menschen von der Religion machten, hänge vor allem vom Aussehen der Frau ab, sagt die Freiburger Kulturanthropologin Dr. Fatma Sagir. Trage eine Muslimin ein Kopftuch und lange, verhüllende Kleidung, werde der Islam als unterdrückend bezeichnet. Zeige sie sich hingegen mit offenen Haaren und trendigen Klamotten, gelte die Religion als aufgeklärt. Dabei erkämpfen sich junge Musliminnen immer mehr das Recht, individuelle Lebensentwürfe zu gestalten und diese auch zu zeigen – zum Beispiel als Modebloggerinnen.
Die Bloggerinnen geben im Internet viele Einblicke in ihren Alltag – und viele Nutzer zeigen sich darüber überrascht, wie „normal“ das Leben der jungen Muslime sei. Foto: Rawpixel/Unsplash
Als Layla Shaikley ein Video bei YouTube einstellte, rechnete sie wohl nicht damit, welche Debatte es in den folgenden Wochen entfachen würde. In dem kurzen Film zu sehen: Shaikley und ihre Freundinnen, wie sie auf Skateboards über einen Parkplatz brettern, an Eiswaffeln schlecken und in High Heels und Röhrenjeans durch New York City stolzieren. Dazu wummern im Hintergrund die Bässe eines Hip-Hop-Songs. Jede der Frauen trägt ein Kopftuch.
Das Video hat internationale Medien sowie Internetnutzerinnen und -nutzer dazu veranlasst, darüber zu diskutieren, wie sich die Amerikanerinnen präsentieren. „Konservative aus dem muslimischen wie dem nichtmuslimischen Lager bezeichneten die Darstellung als unweiblich, als unislamisch“, sagt Dr. Fatma Sagir. Die Freiburger Kulturanthropologin ist vor einigen Jahren auf das Video gestoßen und hat bei ihrer Recherche eine Generation junger Frauen und Männer entdeckt, die sich selbst „Mipster“ – für „Muslim Hipster“ – nennen. Auch Shaikley hat ihrem Video diesen Titel gegeben. Sagir untersucht, wie sich die Mipster und andere Musliminnen und Muslime in westlichen Gesellschaften mit Fragen der Zugehörigkeit und Identität auseinandersetzen.
Szenen aus dem Alltag
Sagir analysiert, wie sich die jungen Menschen beispielsweise auf Instagram oder YouTube in Szene setzen. „Vordergründig zeigen die Videos und Fotos, was sie tragen, wohin sie reisen, was sie kochen oder wie sie ihre Kinder in die Schule bringen“, erklärt Sagir. „Aber bei genauerem Hinsehen offenbart sich, was sie wirklich beschäftigt“ – nämlich, was sie als moderne Muslime ausmacht. Vor allem Frauen lassen andere Nutzer an ihrem Leben teilhaben. Sagir schreibt dies zum einen der Tatsache zu, dass Plattformen wie Instagram und Lifestyle-Themen insgesamt eher bei Frauen beliebt sind. Außerdem stünden Musliminnen unter besonderem Rechtfertigungsdruck: „Das Bild des Islam wird von allen Seiten über das Aussehen der Frau, also über die Verhüllung oder das Kopftuch, verhandelt. Ob eine Gesellschaft oder der Islam modern oder rückständig sei, wird anhand des Körpers der Frauen diskutiert.“
„Modest Fashion“ meint so viel wie „dezente Kleidung“ – die Pose des Models widerspricht allerdings dem, was in dem Wort „modest“ steckt. Foto: Merah Lee/Unsplash
Entsprechend fallen auch viele Kommentare aus, die die Bloggerinnen für ihre Beiträge erhalten: „Viele Nutzer geben sich erstaunt darüber, wie gewöhnlich der Alltag bei jungen Muslimen aussieht“, sagt Sagir. Die bewusste Zurschaustellung von Normalität ebenso wie die Reaktion darauf ließen erkennen, wie überpolitisiert das muslimische Leben in westlichen Gesellschaften sei.
Praktiken infrage stellen
Ihren Alltag zeigt auch Dina Torkia, die zu Sagirs Fallstudien gehört, im Internet. Torkia, die in England lebt, zählt zu den so genannten Modest-Fashion-Bloggerinnen. „Modest Fashion“ meint so viel wie „zurückhaltende, dezente Kleidung“. Designerlabels und Kaufhausketten weltweit haben unter dieser Bezeichnung eigene Kollektionen etabliert und verkaufen Kleidung, die möglichst viel vom Körper verdeckt. In London, Dubai und New York gibt es Modeschauen, die den dazugehörigen Lifestyle präsentieren.
Sagir hat in London mit einigen der Besucherinnen Interviews geführt, weitere Feldstudien sind geplant. „Die Bloggerinnen tragen diese Kleidung und nehmen auf den Fotos, die sie posten, gleichzeitig Körperhaltungen ein, die man gemeinhin als sexy bezeichnen würde. Oder sie tragen grelle Farben und sind stark geschminkt. Damit widersprechen sie allem, was in dem Wort ,modest‘ steckt“, resümiert die Forscherin. Anstatt sich also an theologischen oder feministischen Diskursen zu beteiligen, setzten die Bloggerinnen visuelle Statements auf Plattformen der sozialen Medien und schüfen damit eine neue Lesart der muslimischen Frau.
Sagir erkennt hinter all dem eine neue Entwicklung: Immer mehr junge Muslime beanspruchten für sich einen individuell gestalteten Lebensentwurf. Dabei würden sie selbst entscheiden, welchen Regeln ihrer Religion sie folgen wollten und welchen nicht. Sagir möchte diese Phänomene sichtbar machen und einen Beitrag zur aktuellen Diskussion leisten: „Ich hoffe, dass meine Forschung bewirkt, dass die gesamte Debatte um das Zusammenleben von Muslimen und Nichtmuslimen in der Gesellschaft weniger hysterisch geführt wird.“
Sonja Seidel