Der Exklusivklub
Freiburg, 18.04.2017
Einige Staaten der Europäischen Union (EU) verkaufen Staatsbürgerschaften. Sie schaffen damit Schlupflöcher für die Einwanderung von reichen und erhöhen die Hürden für arme Menschen, kritisiert die Freiburger Soziologin Prof. Dr. Manuela Boatcă – und plädiert stattdessen für offene Grenzen.
Die 25-jährige Fatuma schultert ihre leeren Gefäße. Wie jeden Tag wird sie die fünf Kilometer von ihrem Dorf im ostafrikanischen Äthiopien bis zur nächstgelegenen Wasserstelle zu Fuß zurücklegen. Fließendes Wasser gibt es in ihrer Hütte ebenso wenig wie Strom. Aber Fatuma hat Glück: Wenige Monate zuvor hat sie eine schwere Durchfallerkrankung überlebt, obwohl es keine Ärztinnen und Ärzte in ihrer Nähe gibt. Ihre Altersgenossin Greta sitzt einige Tausend Kilometer weit weg in ihrer schwedischen Heimatstadt vor dem Computer und lernt Deutsch. Sie hat vor Kurzem ihr Studium der Betriebswirtschaftslehre abgeschlossen und wird in wenigen Wochen eine Stelle in einem IT-Unternehmen in Frankfurt antreten.
Wertvolles Stück Papier: Mit einem maltesischen Pass kann eine Person in allen 28 Ländern der Europäischen Union sowie in der Schweiz leben, arbeiten, studieren oder in die Schule gehen. Zudem kann sie ohne Visum in 151 Länder einreisen. Fotos: Maksym Yemelyanov, keki, 12ee12 (alle Fotolia), Montage: Kathrin Jachmann
Eine Äthiopierin und eine Schwedin – zwei sehr unterschiedliche Lebensrealitäten. Manuela Boatcă interessiert, wie diese Ungleichheit zustande kommt und warum sie fortbesteht. Dabei nimmt die Freiburger Soziologin vor allem eines unter die Lupe: Staatsbürgerschaften. „Fatumas und Gretas unterschiedliche Nationalitäten entscheiden darüber, welche Möglichkeiten sie haben, ohne Visum zu reisen oder gar zu migrieren.“ Noch wichtiger: Sofern sie nicht in einem Industrieland lebten, sage ihre Staatsbürgerschaft etwas darüber aus, ob sie im eigenen Land Zugang zu sauberem Wasser, zu Nahrung, Bildung, medizinischer Versorgung und Sicherheit haben.
Staatsbürgerschaft ist also ein wertvolles Gut. Einige Länder der EU haben das erkannt: Seit der Finanzkrise im Jahr 2008 nutzen immer mehr wirtschaftlich gebeutelte Länder den Verkauf von Staatsbürgerschaften oder Aufenthaltsgenehmigungen mit späterer Einbürgerung als profitable Einnahmequelle. Diese Praxis ließ Boatcă aufhorchen. „Mich interessiert das Doppelmaß, das reiche Länder anlegen, wenn arme und wohlhabende Menschen international migrieren wollen.“
Boatcă analysiert Migrationsströme und politische Entwicklungen, die bestimmen, unter welchen Voraussetzungen Menschen aus armen Ländern in ein EU-Land einwandern können. Greta kann die meisten Grenzen der Welt visumfrei passieren und dank des Schengener Abkommens sogar ohne Sondererlaubnis in Deutschland und vielen anderen Ländern arbeiten. Dagegen könnte Fatuma mit einem äthiopischen Pass gerade einmal 36 Nationen bereisen – wie ihre Heimat ausnahmslos arme Länder. Auf legalem Weg in die EU einzureisen oder dort zu leben ist für sie nahezu unmöglich. Schon um das Geld für die Beschaffung eines Passes aufzubringen, müsste sie viele Stunden arbeiten. Greta hingegen kostet ein Reisepass gerade mal so viel, wie sie in einer einzigen Arbeitsstunde verdient.
Ganz anders sähe es aus, wenn Fatuma reich wäre. Staatsbürgerin Maltas könnte sie etwa werden, wenn sie 650.000 Euro in Staatsanleihen, 350.000 Euro in Staatsfonds und 150.000 Euro in Immobilien investieren würde. Um die maltesische Nationalität gehe es dabei natürlich nicht, so Boatcă. Wer jedoch Malteserin oder Malteser wird, erwirbt zugleich das Recht, in allen 28 EU-Ländern und in der Schweiz zu leben, zu arbeiten, zu studieren oder in die Schule zu gehen sowie ohne Visum in 151 Länder einzureisen, unter anderem in Kanada. Auch andere EU-Mitglieder wie Ungarn, Lettland, Griechenland, Portugal und Zypern machen Geschäfte mit den begehrten Papieren. In Lettland bekommt man bereits für 140.000 Euro eine fünfjährige Aufenthaltsbewilligung mit Aussicht auf Verlängerung.
Die Staatsbürgerschaft beschränkt Menschen aus armen Ländern in ihren Möglichkeiten, zu reisen oder gar zu migrieren. Damit entscheidet sie auch über den Zugang zu sauberem Wasser, zu Nahrung, Bildung, medizinischer Versorgung und Sicherheit. Foto: africa/Fotolia
Männer an der Spitze
„Die EU-Staatsbürgerschaft ist wie ein Bündel von Privilegien in einem exklusiven Klub“, sagt Boatcă. Wer das Glück habe, auf EU-Territorium zu leben, genieße diese Privilegien. Wer nicht, sei von ihnen ausgeschlossen. Der Verkauf von Staatsbürgerschaften öffne aber seit einigen Jahren eine Hintertür für eine kleine Anzahl ohnehin privilegierter Nicht-EU-Bürgerinnen und -Bürger, vor allem aus China, Russland oder dem arabischen Raum. „Für mittellose Menschen aus unterentwickelten Regionen, für die es oft um existenzielle Dinge geht, ist ein EU-Pass jedoch ein Luxus, der in weiter Ferne liegt.“
Fatuma steht zudem nicht nur ihre Armut im Weg. Neben dem Thema Staatsbürgerschaft erforscht Boatcă ein weiteres Kriterium, das ebenfalls in den meisten Fällen qua Geburt zugewiesen wird und die Lebensbedingungen eines Menschen beeinflussen kann: das Geschlecht. Es spielt beispielsweise eine Rolle für die Bildung, denn viele arme Familien in Entwicklungsländern schicken zunächst ihre Söhne in die Schule. Nur wenn das Schulgeld reicht, dürfen die Töchter ebenfalls am Unterricht teilnehmen. Selbst beim Essen haben Jungen Vorrang. Gibt es nicht genügend Lebensmittel für alle, bekommen die Mädchen häufig nur das, was übrig bleibt, nachdem ihre Brüder gegessen haben. Damit unterliegen sie von vornherein einem größeren Risiko, mangelernährt zu werden und vor Erreichen des fünften Lebensjahrs zu sterben. Nahrungsmangel ist in reichen Ländern hingegen in der Regel kein Thema; das Geschlecht ist diesbezüglich irrelevant. Für Greta in Schweden herrscht zudem Schulpflicht bis zum 16. Lebensjahr.
Boatcă geht noch einen Schritt weiter: Sie untersucht den Zusammenhang zwischen Wohlstand und Geschlecht. „Die überwiegende Anzahl von Investoren, die sich den Kauf einer EU-Staatsbürgerschaft und damit eine wesentliche Verbesserung ihrer Perspektiven leisten können, ist männlich“, betont sie. Unter den 100 reichsten Menschen, die das US-amerikanische Wirtschaftsmagazin „Forbes“ jährlich ermittelt, sind im Jahr 2016 lediglich acht Frauen. „Das ist die logische Konsequenz aus einer Welt, in der Frauen der Zugang zu vielen Schritten der Kapitalanhäufung verwehrt wird.“ Kaum verwunderlich mag es erscheinen, dass die Superreichen größtenteils aus den USA sowie aus Staaten der EU kommen. Lediglich ein einziger Investor stammt etwa vom afrikanischen Kontinent – ein Mann aus Nigeria.
Durch den Verkauf von Staatsbürgerschaften öffne sich für wenige privilegierte Bürger vor allem aus China, Russland und dem arabischen Raum eine Hintertür nach Europa, so Boatcă. Foto: Dangubic/Fotolia
Festung mit Schlupflöchern
Was hat nun die Staatsbürgerschaft damit zu tun? Boatcă sieht in ihr ein Instrument, mit dem wohlhabende Staaten ihren Reichtum schützen, indem sie Armen den Zutritt zu ihrem Territorium und den damit verbundenen Privilegien verwehren. „Staatsbürgerschaft zementiert die globale Ungleichheit, mehr noch, sie verstärkt sie.“ Die Forscherin hat dafür den Begriff „Kolonialität der Staatsbürgerschaft“ eingeführt, der auf den von dem peruanischen Soziologen Aníbal Quijano geprägten Terminus „Kolonialität der Macht“ zurückgeht. Quijano wollte damit ausdrücken, dass die Hierarchien zwischen Kolonialmächten und den von ihnen unterworfenen Ländern auch nach deren Unabhängigkeit fortbestehen. „Teile der EU sind all diejenigen Länder, die die Welt vor noch gar nicht langer Zeit unter sich aufgeteilt haben. Sie haben durch militärische Intervention, koloniale Expansion und Imperialismus viel Reichtum angehäuft. Die Vergabe von Staatsbürgerschaften erhält dieses koloniale Gefälle weiterhin aufrecht“, erklärt Boatcă. In gleichem Maße, in dem die EU Schlupflöcher für die Einwanderung von Reichen schaffe, erhöhe sie die Hürden für Arme. „Das ist für mich ein Paradoxon, das mit keinem der Prinzipien liberaler Demokratien in Einklang zu bringen ist.“ Die Soziologin ist der Ansicht, dass der Zufall der Geburt nicht über die Chancen für den Rest des Lebens entscheiden darf.
Was aber ist die Alternative? „Ich glaube nicht, dass Staatsbürgerschaften das Problem sind, sondern Grenzen. Das sollte auch Grundlage der Politiken werden. Sehr vereinfacht ausgedrückt: Die Grenzen sollten geöffnet werden.“ Dies würde dazu führen, dass mehr Menschen migrierten – doch die Horrorszenarien, die damit einhergingen, entbehrten einer realistischen Grundlage, betont Boatcă. Offene Grenzen ließen nicht die Massen nach Europa stürmen, wie momentan befürchtet werde, denn schließlich migrierten zurzeit nur etwa drei Prozent der Weltbevölkerung international. Die meisten hätten nicht die Mittel dafür oder sähen bessere Chancen für ihre unmittelbare Zukunft, wenn sie in ein Nachbarland auswanderten. Die positiven Effekte wären dagegen ungleich größer. „Die aktuelle Abschottung der wohlhabenden Länder schafft sehr viel Konkurrenzdruck unter den Bevölkerungsgruppen, die außerhalb des Westens leben und nach Europa migrieren wollen. Eine Öffnung der Grenzen würde diesen Druck nehmen – auf globaler wie nationaler Ebene.“
Yvonne Troll