Der bestohlene Kontinent
Freiburg, 20.02.2019
In Frankreich und Deutschland entbrennt eine Debatte über Restitution, also über die Rückgabe von Kunst- und Kultobjekten, die in der Kolonialzeit geraubt oder illegal erworben wurden. Ein Workshop am Maria Sibylla Merian Institute for Advanced Studies in Africa (MIASA) in Accra/Ghana ergänzt die hiesige Debatte um etwas, das ihr bisher fehlte: die afrikanische Perspektive.
„Dass Objekte zurückgegeben werden, muss keineswegs heißen, dass man sie in Europa nie wieder zu sehen bekommt“, sagt Andreas Mehler. Foto: studioDG/stock.adobe.com
Im November 2018 erhielt Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ein Dossier über Restitution, das er in Auftrag gegeben hatte. Der Bericht der französischen Professorin für Kunstgeschichte Bénédicte Savoy und des senegalesischen Ökonomieprofessors Felwine Sarr stieß eine intensive Debatte an: „90 bis 95 Prozent des materiellen afrikanischen Kulturguts befinden sich außerhalb des afrikanischen Kontinents“, behaupten Savoy und Sarr und wollen „eine neue Ethik der Beziehungen“ einläuten. Macron hörte auf seine Berater und verkündete, dass er 26 Kunstgegenstände an den westafrikanischen Staat Benin zurückgeben werde; manche Händler, Sammler und Museumsdirektoren zeigten sich darüber erbost, auch hierzulande. Ein Workshop am MIASA in Ghana ergänzt die Debatte in Deutschland nun um etwas, was ihr bisher fehlte – die afrikanische Perspektive. Dr. Wazi Apoh, Archäologe an der Universität von Ghana, hat das Treffen erarbeitet und Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Benin, Ghana, Kamerun, Nigeria, Namibia, Deutschland, Großbritannien und der Schweiz in Accra versammelt.
„Zur afrikanischen Perspektive gehört inzwischen leider auch eine große Portion Misstrauen“, berichtet Prof. Dr. Andreas Mehler, der an dem Workshop teilnahm. Mehler ist Direktor des Arnold-Bergstraesser-Instituts (ABI), das zusammen mit dem Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) das MIASA in Ghana koordiniert. „Ich war fast etwas verblüfft, wie deutlich das zur Sprache kam“, sagt Mehler, der durchaus Verständnis für diese Haltung hat. „Auch heute hören afrikanische Museumsverantwortliche immer wieder von ihren deutschen Fachkollegen, dass es jetzt vielleicht doch nicht so schnell mit der Rückgabe klappe.“ Erst einmal müsse man sich selbst einen Überblick verschaffen. Das koste Geld und vor allem Zeit. „Wenn dann zehn Jahre für eine Rückgabe anvisiert werden, begreift man das in Afrika inzwischen als Hinhalte-Taktik.“
Selbst recherchieren, statt blind zu vertrauen
Eine der Forderungen, die in Accra laut wurden, war deswegen ein Anspruch auf Transparenz. Wichtig sei, dass afrikanische Forschende ungehinderten Zugang zu allen Museen und Instituten bekommen, die afrikanische Objekte beherbergen. Nur so könnten sie sich selbst ein Bild machen, anstatt den Angaben ihrer europäischen Partner blind vertrauen zu müssen. Mehler empfiehlt, solche Wünsche ernst zu nehmen. „Wir haben jetzt eine günstige Gelegenheit, die wir nutzen sollten. Wir müssen das Vertrauen stärken, vielleicht sogar erst einmal überhaupt herstellen.“
Auch wenn Macron die Restitution zur Chefsache machte: Mehler erlebt, dass das Thema im Westen nicht sonderlich ernst genommen werde: „Verhandlungen und Übereinkünfte über Migration oder über wirtschaftliche Zusammenarbeit halten wir für wichtiger.“ Der Freiburger Politikwissenschaftler sieht das jedoch anders. „Wenn wir es schaffen, auf diesem Gebiet gut zusammenzuarbeiten, wird sich das auch positiv auf unser gesamtes Verhältnis zu Afrika auswirken.“ Das entstehende Vertrauen würde schließlich auch bei der Lösung weiterer gemeinsamer Probleme und Fragen helfen: „Was wir zusammen über Restitution erarbeiten, kann Modellcharakter bekommen.“
Das British Museum in London stellt 700 Bronzestatuen aus Benin aus – gemeinsam mit weiteren Kunstobjekten wurden sie 1897 aus dem afrikanischen Königreich geraubt. Foto: Wikimedia Commons
Einfach wird es nicht, das weiß Mehler. Er verweist auf ein afrikanisches Objekt, das sich in Baden-Württemberg befindet: Noch bis März 2019 wird ein Neues Testament, verfasst in der afrikanischen Sprache Nama, im Stuttgarter Linden-Museum lagern. Die Bibel gehörte Hendrik Witbooi, einem Anführer der Nama und Kämpfer gegen die deutschen Kolonisatoren – und wurde, zusammen mit einer Peitsche Witboois, vermutlich 1893 erbeutet. Die Verhandlungen über die Rückgabe seien ein langer und für beide Seiten schmerzhafter Prozess gewesen – voller Fettnäpfchen und Fallstricke, aus denen sich aber eine Lektion für die Zukunft lernen lasse.
Kommuniqué gibt Richtlinien vor
Wie Best-Practice-Fälle aussehen könnten, haben die Teilnehmer des Workshops in einem Kommuniqué skizziert: Zunächst sollten alle beteiligten Partner frühzeitig klären, was genau Gegenstand der Gespräche ist – und was nicht. Dann müssen sie herausfinden, ob es Forderungen gibt, die sich gegenseitig ausschließen, und gemeinsam die Zeitspanne definieren, die maximal benötigt wird, um die Herkunft eines Objektes zweifelsfrei zu klären. Und, zu guter Letzt: eine gemeinsame Ausstellungspraxis festlegen. „Dass Objekte zurückgegeben werden, muss keineswegs heißen, dass man sie in Europa nie wieder zu sehen bekommt“, erläutert Mehler.
Die gegenwärtigen Debatten in Deutschland und Frankreich wurden in Accra positiv wahrgenommen. Allerdings fragte man sich, warum von den ehemaligen Kolonialmächten England und Belgien keine Reaktion darauf zu vernehmen sei, berichtet Mehler. Gleichzeitig nahm man die afrikanischen Partner in die Pflicht: Auch von ihnen wünschte man sich mehr Engagement – etwa von einer supranationalen Organisation wie der Afrikanischen Union. Die Kolonialmächte zogen Grenzen oft willkürlich und zerschnitten dadurch Gebiete, in denen eine Ethnie lebte. Deswegen ist unklar, ob Regierungen heutiger afrikanischer Staaten überhaupt die Legitimation besitzen, für bestimmte Gemeinschaften ein Objekt zurückzufordern.
Es müssen noch viele Schritte folgen, aber Andreas Mehler zieht ein positives Fazit: „Lange war es so, dass Afrika einfach abnickte, was aus Europa kam. Es ist ein Fortschritt, dass wir jetzt auch selbstbewusste Stimmen hören. Sie stellen ein Gleichgewicht her und ermöglichen gemeinsame Lösungen. Und genau diese Ziele verfolgen wir am MIASA.“
Mathias Heybrock
Andreas Mehler und Wazi Apoh über Raubkunst
Interview mit Andreas Mehler über das Maria Sibylla Merian Institute for Advanced Studies in Africa