Das WhatsApp des Mittelalters
Freiburg, 28.11.2018
Seit Anfang 2018 arbeiten das Slavische Seminar der Universität Freiburg und das Institut für Russische Sprache der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau in einer auf mehrere Jahre angelegten Partnerschaft zusammen. Die Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler wollen gemeinsam mit Computerexperten nutzerfreundliche Tools entwickeln. Diese sollen dabei helfen, das Kirchenslavische besser zu untersuchen – eine alte Kultursprache in den slavischen Ländern orthodoxer Konfession.
Gut erhaltener Kulturschatz: Die etwa 800 Jahre alten „Birkenrindentexte“ erzählen aus dem Alltagsleben. Foto: Wikimedia Commons
Achim Rabus deutet auf das geräumige Bücherregal in seinem Arbeitszimmer. „Sie sehen: Ich lese viel – und ich mag Bücher.“ Mit Blick auf Prof. Dr. Olga Lyashevskaya, seine Kollegin aus Moskau, fügt der Freiburger Professor für Slavische Philologie hinzu: „Wir sind beide Linguisten aus Leidenschaft. Doch wir sind auch an einer Verknüpfung von traditioneller und digitaler Linguistik interessiert. Es geht darum, Computerprogramme zu entwickeln, die eine neue Qualität der empirischen sprachhistorischen Forschung ermöglichen.“ Im konkreten Fall geht es um das Kirchenslavische. Weil die Grammatik slavischer Sprachen überaus komplex ist, ist der Bedarf an der Weiterentwicklung von Taggern – so werden die Programme in der Forschung genannt – groß. Damit lassen sich künftig noch präzisere Ergebnisse erzielen. Gemeinsam mit Computerspezialisten erarbeitet das etwa zehnköpfige Team von Linguistinnen und Linguisten Programme, die selbstständig lernen können.
Gläubige verstehen mehr
Das von der Alexander von Humboldt-Stiftung unterstützte Projekt „Digitale Paläoslavistik“ ist der Korpuslinguistik zuzuordnen. Die Forschenden untersuchen Texte unter anderem mithilfe von Taggern. Die machen es möglich, nach bestimmten Wortarten im Text zu suchen – und so beispielsweise den Anteil an Verben zu bestimmen. Das Ergebnis solcher Untersuchungen sind Statistiken und aussagekräftige Grafiken, mit denen sich der Sprachwandel sowie Sprachunterschiede abbilden lassen. „In Russland und gerade in Moskau arbeiten viele exzellente Philologinnen und Philologen, die Computerprogramme entwickeln und sie für sprachwissenschaftliche Fragestellungen anwenden“, sagt Rabus. „Wir haben auch deshalb eine Partnerschaft mit dem Moskauer Institut angestrebt, weil dort die Tradition der Sprachwissenschaft stark verankert ist“.
Von den Zeiten der byzantinischen Brüder Kyrill und Method an, die im 9. Jahrhundert slavische Völker missionierten, bis ins 18. Jahrhundert prägte das Kirchenslavische das Schrifttum des slavisch-orthodoxen Raums. Für Slaven entspricht es in etwa dem Latein im Katholizismus, ist jedoch für Gläubige besser verständlich – ungefähr so wie Latein für Italiener. Doch es weicht nicht nur von der Volkssprache ab, die im Laufe der Zeit verstärkt Eingang in kirchenslavische Texte fand. Es weist auch in geografischer Hinsicht beträchtliche Unterschiede auf und splittet sich in diverse Varianten auf. Zudem ist die Rechtschreibung von Region zu Region verschieden. Basierend auf neuronalen Netzen erarbeiten die Forschenden Tagger, die mit all diesen Differenzen zurechtkommen.
Die Slavenapostel: Die Gelehrten und Priester Kyrill und Method brachten das Christentum unter die Völker des mittelalterlichen Großreichs Kiever Rus.
Foto: Wikimedia Commons
Briefe auf Birkenrinde
Mit solchen Programmen lassen sich Texte ganz unterschiedlicher Art untersuchen: religiöse Schriften, aber auch juristische Schriftstücke mit ihrer meist stark volkssprachlichen Diktion. Oder auch die bis zu 800 Jahre alten so genannten Birkenrindentexte, die man des nassen Klimas wegen gut erhalten in der Umgebung der Stadt Nowgorod fand. Es sind Briefe oder Schriftdokumente aus dem Alltagsleben, die von finanziellen Problemen oder von Heiratsvorhaben handeln: das WhatsApp des Mittelalters gewissermaßen. Oder auch Chroniken: Lyashevskaya erwähnt die Nowgoroder Chronik, die in einer hybriden Sprache über die Epoche Iwans des Schrecklichen berichtet. Dazu kommen Bibelübersetzungen, Autobiografien und Lebensläufe – und beispielsweise der Domostroj, ein volkssprachlicher Ratgeber zur Haushaltsführung, vergleichbar mit dem Knigge.
Hat die Entwicklung solcher Programme auch einen ganz praktischen Nutzen? „Es geht darum, nicht nur funktionsmächtige, sondern auch benutzerfreundliche Programme und Oberflächen zu schaffen. Denn nur dadurch kann ihre Akzeptanz bei den Philologen verbessert werden“, meint Rabus. Am Ende der Partnerschaft, auch darauf weist er hin, sollen die Ergebnisse der Arbeit auf einer Konferenz diskutiert werden. Und nicht zuletzt spiele bei dem Projekt der deutsch-russische Austausch eine wichtige Rolle.
Hans-Dieter Fronz