Das große Fressen
Freiburg, 16.12.2020
Die Fotografie zeigt einen Luchs. Das Tier steht im tiefen Wald, besitzergreifend hat es beide Vorderbeine auf einem Rotwildkadaver positioniert. Das Bild stammt von einer der zahlreichen Fotofallen, die das Team um Prof. Dr. Marco Heurich für eine Studie aufgestellt hat. Heurich ist Wildtierökologe des Nationalparks Bayerischer Wald und Professor für Wildtierökologie und Naturschutzbiologie an der Universität Freiburg. „Ziel der Studie war, dass wir die Bedeutung von Aas im Ökosystem überdenken“, sagt er. Um zu einem Ergebnis zu kommen, werteten die Forscherinnen und Forscher in etwa sechs Jahren 270.279 Fotos aus, geschossen in insgesamt 15.373 Nächten.
Guten Appetit: Der Luchs gehört zu den seltenen Beutegreifern. Foto: Nationalpark Bayerischer Wald
Früher hat der Nationalpark Bayerischer Wald überfahrene Tiere und Wild, das innerhalb der Bestandsregelungen gejagt wurde, entsorgt oder verkauft. „Jetzt überlassen wir tote Tiere dem Park, wie es auch im Kreislauf eines natürlichen Ökosystems ablaufen würde“, erläutert Marco Heurich. So ganz naturbelassen geht es aber nicht zu: Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler variieren das Angebot von Kadavern. Das Team beobachtet unter anderem, ob Aasfressern frisches Fleisch oder aufgetautes Wild besser mundet, welche Jahreszeit für die Auslage von Aas günstiger ist und ob große Tiere wie der Luchs, der mit 29 weiteren Artgenossen den Park durchstreift, lieber im verborgenen Wald oder auf offener Wiese fressen.
Vielfalt in der Fotofalle
Die Fotofallen zeigen nicht nur streng geschützte und seltene Beutegreifer wie Luchse oder eher häufig sichtbare Jäger wie Füchse, sondern auch Marder, Dachse, Wildkatzen, Mäusebussarde, Rotmilane und Seeadler, die sich ebenfalls für die Kadaver interessieren. „Von den 17 Wirbeltierarten, die die Auslagen besuchten, befinden sich drei auf der Roten Liste der vom Aussterben bedrohten Arten“, zählt Heurich auf. Zwei der beobachteten Vögel befänden sich zudem auf der Roten Liste gefährdeter Vögel in Bayern.
Als zusätzliche Nahrungsquelle im Winter spiele Aas eine große Rolle. Im Sommer zerfällt das Fleisch rasch, was die Tiere vor Herausforderungen stellt, führt der Forscher aus. Verantwortlich für den Abbau in der warmen Jahreszeit sind Insekten, Bakterien und Pilze. „Wenn Dungkäfer und Schmeißfliegen das Aas schneller finden als die großen Tiere, ist es sehr schnell weg.“ Durch den Nährstoffeintrag auf dem Beuteplatz entwickle sich zudem am Boden eine eigene Vegetation. „Es entsteht ein Hotspot des Lebens“, sagt Heurich. Dieser Hotspot aus Mikroben und Pilzen interessiert die Wissenschaftler nun verstärkt: „Der Fokus unserer ersten Studie lag auf Wirbeltieren, aber jetzt nehmen wir alle Mitwirkenden in diesem Nährstoffkreislauf in den Blick.“
Aas gehört zum Ökosystem
Der Wildtierforscher bedauert, dass Aasfressern wie Geiern oder Raben ein schlechter Ruf anhafte, oder dass das Wort „Aas“ als Schimpfwort gelte. „Aas zu vertilgen ist ein wichtiger und ganz natürlicher Vorgang in einem Ökosystem“, betont Heurich. Wie haben also die Aasfresser das Angebot angenommen? Bei der Frische des Fleisches, ob aufgetaut oder nicht, zeigten sich die Tiere nicht wählerisch. Es spielte für sie auch keine Rolle, zu welcher Zeit der Köder ausgelegt wurde.
Anders dagegen verhielt es sich mit der Wahl des Platzes. Vögel bevorzugten offene Waldbestände, während der Luchs dichteren Bereichen den Vorzug gab. Und die Füchse wandten einen cleveren Trick an, so Heurich: „Aufmerksam verfolgten sie Versammlungen von Raben, weil da zumeist Beute winkt.“ Es überrascht also nicht, dass Füchse die häufigsten Besucher bei den Futterstellen waren, dicht gefolgt von Mardern und Kolkraben. Von Vorteil seien große Kadaver wie zum Beispiel vom Rotwild mit einem Gewicht von 70 bis 80 Kilogramm. Das bedeute Futter für viele Arten, die sich daran sattfressen könnten, erklärt der Forscher.
Immer weniger eingreifen
„Im Nationalpark Bayerischer Wald greifen wir immer weniger in die Abläufe des Ökosystems ein, wobei uns der Luchs hilft, die Rotwildpopulation im Gleichgewicht zu halten“, sagt Heurich. Rehe würden schon lange nicht mehr geschossen. Wildschweine und Rotwild hingegen würden weiter gejagt. Das geschehe zum Schutz der bewirtschafteten Wälder und Felder in der Umgebung des Nationalparks, damit die Wildschweine beispielsweise nicht die Gärten umpflügen.
Aus der Studie folgerten die Wissenschaftler unter anderem, dass die Winterfütterung mit Aas, angepasst an die neuen Erkenntnisse, eine wichtige Rolle im parkeigenen Ökosystem spiele. Das sei auch von Bedeutung für die neue Wolfpopulation, die die Gruppe der großen Beutegreifer verstärke, sagt Heurich. „Ein Wolf wurde schon an einem Kadaver beobachtet, und wir freuen uns, dass es bislang keine Probleme mit den Neuankömmlingen gab.“
Eva Opitz