Antikörper und Auszeichnungen
Freiburg, 15.07.2019
Mittagszeit. Im fünften Stock des Instituts für Biologie bittet Prof. Dr. Michael Reth zu Tisch. Der Freiburger Immunologe serviert Gemüsereis mit Fleischpflanzerl, dazu reicht er Sojasoße und süßen bayrischen Senf. Das asiatisch-bayrische Fusion-Food schmeckt vorzüglich, doch Komplimente wehrt Reth entschieden ab: „Kein Vergleich mit den asiatischen Küchen, die ich gerade in New York probieren durfte.“ Über den Atlantik war Reth allerdings nicht der Kochkunst wegen geflogen. New York bildete den Abschluss einer Reise, die den gebürtigen Düsseldorfer zunächst nach Washington geführt hatte: Dort ist er im Mai 2019 in die US-amerikanische National Academy of Sciences (NAS) aufgenommen worden – als erster Wissenschaftler der Albert-Ludwigs-Universität.
Unter welchen Voraussetzungen wird das Immunsystem eines Menschen aktiviert? Diese Frage steht im Mittelpunkt von Michael Reths Forschung.
Foto: Sebastian Kaulitzki/stock.adobe.com
Die National Academy of Sciences (NAS) ist eine ruhm- und traditionsreiche Ehrengesellschaft führender internationaler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die einst von US-Präsident Abraham Lincoln gegründet wurde. „Man trifft auf Koryphäen aus allen Fachbereichen“, schildert Reth seine Eindrücke von der jährlichen Generalversammlung. „Die Begegnungen und Vorträge empfand ich als sehr anregend.“ In Deutschland gibt es nur zwei Immunologen, denen die Ehre der Mitgliedschaft in dieser Akademie bislang zuteilwurde. Seit 1994 gehört Klaus Rajewsky der NAS an, emeritierter Professor der Universität zu Köln. Und nun auch Reth – der bei Rajewsky seine Dissertation schrieb. „Ihm verdanke ich viel“, sagt Reth über seinen Doktorvater, auf den er damals eher zufällig gestoßen war. „Ich ging nach Köln, weil ich dort Ökologie studieren wollte. Ich wollte nichts Geringeres als die Welt zu retten.“
Dass das in der Kölner Ökologie zunächst bedeutete, Käfer zu studieren, war Reth gar nicht recht: „Ich konnte Käfer damals nicht mit den sich anbahnenden Umweltkatastrophen verbinden.“ Spannender, stellte er bald fest, war ohnehin das, was die Gruppe um Rajewsky trieb: Immunologie. „Und unser Immunsystem ist ja auch eine Art Ökosystem“, zieht Reth den Bogen zu seiner ursprünglichen Motivation. Dem Immunsystem widmete er schließlich seine gesamte Karriere – genauer gesagt der Frage: Wie kommt es zur Aktivierung dieses Systems? Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit ein Organismus Antikörper produziert, die den Menschen vor Krankheitserregern schützen?
Wie Signale entstehen
Reths Forschung dreht sich um die Signalentstehung und die Signalprozesse in Lymphozyten, einer Untergruppe der weißen Blutkörperchen. Er war Ende der 1980er Jahre der erste Forscher, der die Signal-Untereinheiten des Antigenrezeptors auf B-Zellen beschreiben konnte – das sind die einzigen Zellen, die Antikörper bilden. Später gelang Reth mit seinem Team die erstmalige Identifizierung eines wichtigen Proteins, das für die „Differenzierung“ der B-Zellen von entscheidender Bedeutung ist: Während der Entwicklung der Zelle wirkt es als eine Art Gen, das den Tumor unterdrückt. Diese Arbeiten ermöglichten wichtige Einblicke in die Entstehung von Leukämie bei Kindern.
Reths Forschung brachte ihm zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen ein: 1988 erhielt er den Heinz Maier-Leibnitz-Preis und 1995 den renommierten Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft. 2014 folgte der Paul Ehrlich- und Ludwig Darmstaedter-Preis – die angesehenste Auszeichnung der deutschen medizinischen Wissenschaft.
Michael Reth ist einer von zwei Immunologen Deutschlands, die als Mitglied in die National Academy of Sciences aufgenommen wurden. Foto: National Academy of Sciences
Professur, Studiengang, Exzellenzcluster
„Drei Menschen waren für meine berufliche Laufbahn in Deutschland und in den USA wichtig“, erinnert sich der Biologe. In den USA handelt es sich um Prof. Dr. Frederick Alt, bei dem Reth als Postdoc arbeitete. In Deutschland nennt er neben Doktorvater Rajewsky den Nobelpreisträger Prof. Dr. Georges Köhler, Direktor des Freiburger Max-Planck-Instituts (MPI) für Immunbiologie und Epigenetik: „Er holte mich nach Freiburg. 1989 wurde ich am MPI Gruppenleiter.“ Die produktive Zusammenarbeite endete durch den frühen Tod Köhlers im Jahr 1995. Zuvor ermutigte er Reth jedoch, sich auf die erstmalig ausgeschriebene Professur für Immunologie an der Universität Freiburg zu bewerben, die Reth 1996 erhielt.
„Das war eine Umstellung, weil ich jetzt nicht mehr nur forschte, sondern auch einen Studiengang aufbauen und die Lehre in der Immunologie organisieren musste.“ Es galt zudem, sich mit der Immunologie der Medizinischen Fakultät und auch mit der Universitätsklinik zu verzahnen. „Ich denke, das ist ganz gut gelungen. Ich hatte aber auch immer exzellente Studierende“, sagt Reth. Einige seiner ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben inzwischen selbst Professuren inne. Reths Signalforschung und die Erfahrungen beim Aufbau der Immunologie an der Fakultät für Biologie halfen ihm später bei der Gründung des interdisziplinären Exzellenzclusters BIOSS – Centre for Biological Signalling Studies, dessen Sprecher er ist.
Knüller ohne Applaus
Im Jahr 2000 machte der Biologe gemeinsam mit seinem Team eine verblüffende Entdeckung. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte man angenommen, dass Rezeptoren auf den Zelloberflächen chaotisch, also zufällig verteilt seien. Die Daten der Arbeitsgruppe zeigten aber etwas anderes, nämlich eine komplexe Organisation der Rezeptoren im Nanobereich. „Das ist ein Knüller“, sagte Reth zu seinen Mitarbeitern, „das wird einschlagen wie eine Bombe.“
Als der Immunologe diese Forschungsergebnisse auf einer Konferenz vortrug, passierte jedoch nichts. „Die Möglichkeit, dass Rezeptoren und biologische Membranen im Nanobereich organisiert sind, passte nicht zu den damaligen Vorstellungen und wurde schlicht ignoriert“, sagt er. Das war sein Galileo-Galilei-Moment: eine bedeutende wissenschaftliche Erkenntnis, die keine Anerkennung findet. Reth berichtet erstaunlich gefasst davon. „Zum Glück haben wir in Deutschland ein Wissenschaftssystem, das eine langfristige Förderung ermöglicht. Wir konnten unsere Forschung also weiterführen.“ Schlussendlich wurde sie bestätigt. „Es hat nur 18 Jahre gedauert“, sagt er und lächelt.
Nanowelt der Immunzellen
Dass er gegen alle Widerstände beharrlich geblieben ist, sei wohl auch ein Grund für die Aufnahme in die NAS, vermutet Reth. Ärger verspürt er keinen. Eher äußert er Verständnis, dass die Kolleginnen und Kollegen die These so lange nicht akzeptieren wollten: „Die Organisation der Rezeptoren kann man nur auf der Nano-Ebene untersuchen, 100-fach unterhalb der Auflösung eines Lichtmikroskops. Damals gab es kaum Techniken, um Nanobereiche der Zellmembran zu erforschen.“
Inzwischen gibt es mehrere neue Methoden, die den Nanobereich „beleuchten“. Michael Reth ist überzeugt, dass diese Techniken seiner Disziplin noch gewaltige Fortschritte bescheren werden: „Wir sind auf einer Entdeckungsreise in die Nanowelt der Immunzellen, können die Regulation und Aktivierung dieser Zellen dadurch wesentlich besser verstehen und Krankheiten des Immunsystems möglicherweise verhindern.“
Mathias Heybrock