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Agentinnen der Goldenen Zwanziger

Mit neuen Kunstformen legte die Weimarer Republik die Grundlagen für das heutige Kulturverständnis

Freiburg, 27.02.2019

Die Verfassung der Weimarer Republik von 1919 leitete in Deutschland eine neue kulturelle Phase ein: Zum ersten Mal war die Kunstfreiheit gesetzlich verankert. Die Freiburger Germanistikprofessorin Sabina Becker ist sich sicher, dass mit der Demokratisierung der Gesellschaft auch eine Demokratisierung der Kultur einherging. Ob Romane, Kinofilme oder Tanzrevuen: Die sozial junge Schicht der Angestellten öffnete sich Becker zufolge am stärksten den neuen Formen.


Mittagspause auf dem Dach: Viele Frauen fanden als Verkäuferin oder Stenotypistin den Weg in die Berufstätigkeit – und vernachlässigten dabei nicht die Fitness am Arbeitsplatz. Foto: Ullstein Bild/Timeline Images

Volle Lichtspielhäuser, schillernde Tanzrevuen, neue Romansujets und eine Architektur, die bis heute weltbekannt ist: Als in Deutschland nach der Novemberrevolution im Jahr 1918 das Ende der Monarchie eingeleitet und die Republik ausgerufen wurde, setzte eine Blütephase des Kunstschaffens ein, denn mit der Demokratisierung der Gesellschaft ging eine Demokratisierung der Kultur einher. Zum ersten Mal wurde die Kunstfreiheit in der Verfassung verankert: „Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei. Der Staat gewährt ihnen Schutz und nimmt an ihrer Pflege teil“, heißt es in dem Dokument.

Die Fernsehserie „Babylon Berlin“ nahm 2018 zahlreiche begeisterte Zuschauerinnen und Zuschauer auf eine Reise in das Berlin der „Goldenen Zwanziger“ mit. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hingegen sahen die Zeit der Weimarer Republik bisher in kultureller Hinsicht als eine Zwischenkriegszeit, die wenig Neues bot. „Diese These stimmt so nicht“, sagt Prof. Dr. Sabina Becker vom Institut für Neuere Deutsche Literatur der Universität Freiburg. In ihrem Buch „Experiment Weimar. Eine Kulturgeschichte Deutschlands 1918–1933“ legt die Literaturwissenschaftlerin dar, warum diese Zeit als eigenständige Epoche zu betrachten ist. Die Kunstschaffenden wollten, so Becker, den Prozess der Demokratisierung des Landes und die neu gewährte Freiheit für sich nutzen.

Zerstreuung für die Angestellten

Bereits 1919 begannen für die deutschen Lichtspielhäuser erfolgreiche Jahre: Ab Mitte der 1920er eröffneten riesige Kinopaläste mit 1.600 und mehr Plätzen – der Kinofilm wurde zum Massenmedium. „Filme waren die Zerstreuungskultur der Angestellten“, erklärt Becker. Generell wurde Kultur nun nicht mehr nur für eine bürgerliche Elite geschaffen. Die noch junge soziale Schicht der Angestellten, die erst seit den 1880er Jahren existierte, wurde in der Weimarer Republik immer breiter: Nicht nur Männer, sondern auch Frauen arbeiteten in neu eröffneten Kaufhäusern und einem größer werdenden Verwaltungsapparat. „Die Angestellten öffneten sich am stärksten den neuen Formen der Kultur, sie wollten ihren Bildungshorizont erweitern und waren interessiert an amerikanischen Einflüssen. Dadurch wurden die Frauen und Männer dieser Schicht zu Agentinnen und Agenten der Modernisierung des deutschen Kulturbegriffs.“


Konsumpalast am Leipziger Platz: Das Kaufhaus Wertheim in Berlin galt lange Zeit als das schönste Warenhaus Deutschlands und war mit einer Verkaufsfläche von 70.000 Quadratmetern zugleich das größte Europas. Foto: Waldemar Titzenthaler/Wikimedia Commons

Doch nicht nur als Rezipientinnen und Rezipienten waren die Angestellten in den 1920er Jahren wichtig für die Entwicklung der deutschen Kunst. Sie wurden auch selbst zu einem Sujet der Literatur und des Films: Autorinnen und Autoren schilderten die Alltagswelt der Angestellten, das Leben in den Großstädten, das zum ersten Mal auch positiv dargestellt wurde, und vor allem die Situation der Frauen, die nicht nur im Berufsleben einen Platz fanden, sondern sich auch das Wahlrecht erkämpften. Ein typisches Beispiel ist der 1931 erschienene Roman „Mehlreisende Frieda Geyer. Roman vom Rauchen, Sporteln, Lieben und Verkaufen“ von Marieluise Fleißer. Der Stil wurde sachlich, das Pathos, wie es noch in der Zeit des Expressionismus existierte, sei nach Kriegsende verloren gegangen, erklärt Becker.

Neuer Baustil in allen Städten

Für die erste Nationalversammlung der Republik 1919 wurde Weimar gewählt – vorrangig, um dem politisch aufgeheizten Klima in Berlin zu entkommen. Die Wahl des Ortes hatte jedoch auch symbolische Funktion: Die Regierenden wollten zeigen, dass sie Politik nicht nur für die Hauptstadt, sondern für alle Regionen Deutschlands machten. Auch die kulturelle Entwicklung habe nicht nur in Berlin stattgefunden, erläutert Becker: „Dieses Stereotyp, nur in Berlin habe sich die Kunst modernisiert, muss aufgebrochen werden.“ Zwar war die Hauptstadt eine dynamische und offene Metropole, die sich kulturell und technisch rasant entwickelte, aber vor allem ein Blick auf die damalige Architektur zeigt deutlich, dass der Wandel überall im Land stattfand: Die weltweit berühmteste Schule für Architektur, das Bauhaus, wurde 1919 in Weimar gegründet. Von dort aus prägte der neue Stil viele Bauvorhaben in deutschen Großstädten, wie zum Beispiel das Projekt „Neues Frankfurt“ in Frankfurt am Main, Wohnsiedlungen in Dessau und Stuttgart oder neue Museen im Ruhrgebiet. „Alle Gebiete öffneten sich für die neue kulturelle Phase“, berichtet die Forscherin. Nur München hielt sich zurück.

Doch auch die Probleme dieser Epoche – wie der verlorene Krieg und die ökonomischen Belastungen – dürfe man nicht aus den Augen verlieren, sagt Becker. Gerade die Schicht der Angestellten war von den Auswirkungen der 1929 beginnenden Weltwirtschaftskrise als erste betroffen: In Warenhäusern und Verwaltungen gab es Massenentlassungen, während in den Fabriken weiterhin Arbeiterinnen und Arbeiter benötigt wurden. Hans Fallada beschrieb in seinem 1932 erschienen Roman „Kleiner Mann – was nun?“ detailliert die Lebensumstände der Angestellten in dieser Zeit. Doch ungeachtet aller Krisen und des folgenden Zweiten Weltkriegs seien die kulturellen Ideen der Weimarer Republik nicht mit ihr untergegangen, resümiert Becker: „Sie bilden die zentralen Grundlagen unseres heutigen Kulturverständnisses.“

Annette Kollefrath-Persch