Unterstützung für unterwegs
Freiburg, 05.04.2017
Etwa 14 Prozent der Studierenden an der Universität Freiburg haben eine Behinderung oder eine chronische Erkrankung. Yisita Hernández ist eine von ihnen: Die Jurastudentin hat von Geburt an ein Sehvermögen von vier Prozent. Das erfordert im Alltag eine hohe Gedächtnisleistung und technische Geräte, die beim Lernen helfen.
Lernen mit Kamerasystem und Braillezeile: Yisita Hernández filmt Texte ab und kann sie anschließend mit dem Laptop vergrößern oder sich über den kleinen rechteckigen Kasten in Blindenschrift darstellen lassen. Foto: Thomas Kunz
Ein Surren, und schon hat die Kamera den Text erfasst. „Landstreicher und Tagelöhner nennt man euch: bei unserem Namen aber erzittert die Welt." Knarzend stolpert die Computerstimme über die Silben von James Joyces Roman „Ulysses". Yisita Hernández schiebt das Buch ein Stück nach oben. Der nächste Absatz taucht auf dem Bildschirm des Laptops auf. Auf der Oberfläche eines rechteckigen Kastens, der vor dem Computer steht, erscheinen kleine weiße Punkte.
Kamerasystem (hinten links), Laptop mit spezieller Software und Braillezeile erleichtern Studierenden mit Sehbehinderung das Lernen. Foto: Thomas Kunz
Hernández fährt mit den Fingerkuppen über das Muster, das sie gebildet haben. Lesen kann sie die Zeichen der Blindenschrift Braille nicht; sie zeigt heute nur, wie ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen das machen. Das Kamerasystem und den Laptop mit spezieller Software, die Texte vergrößert und vorliest, nutzt Hernández dagegen täglich: beim Lernen in der Bibliothek, wenn sie eine Klausur schreibt oder wenn sie notiert, was die Dozentin oder der Dozent vorne an die Tafel schreibt.
Flexibles Lernen mit Rollkoffer
Hernández studiert Jura und hat von Geburt an ein Sehvermögen von vier Prozent. Farben kann sie sehr gut erkennen – kleine Details sowie Objekte, die sich bewegen, bereiten ihr dagegen Schwierigkeiten. Das Kamerasystem, das jetzt vor ihr auf dem Schreibtisch steht, ähnelt in Größe und Aussehen einer Schreibtischlampe.
Mit ihm kann die Studentin nicht nur Bücher, sondern auch Skripte und sogar Tafelbilder abfilmen und sie direkt auf den Laptop übertragen. Die Geräte hat sie bei der Universität ausgeliehen. Genau wie die Braillezeile, die Texte in Blindenschrift darstellt, kann sie diese in einem handlichen Rollkoffer überallhin mitnehmen.
Beate Massell, Beauftragte für Studierende mit Behinderung und chronischer Erkrankung an der Universität Freiburg, hat die Geräte zusammen mit einem Team aus zukünftigen Nutzerinnen und Nutzern ausgewählt und verleiht sie an Studierende – ein Service, der Betroffenen mehr Flexibilität bieten soll. Anspruch haben alle, auch Gäste, die in Freiburg ein Auslandssemester machen oder ein Blockseminar besuchen.
„Letztes Jahr kam jemand für eine Prüfung aus Berlin angereist. Er hatte zwar zu Hause ein stationäres Gerät, mit dem er Texte vergrößern kann, aber das wiegt 20 Kilogramm. Ich musste hier vor Ort dann schnell ein ähnliches Lesegerät und einen Laptop organisieren und in den Prüfungsraum tragen. Danach hatte ich erst mal Muskelkater", erzählt Massell.
Solche Situationen hätten sich in den Prüfungsphasen gehäuft, weshalb die Idee aufgekommen sei, selbst Geräte anzuschaffen, möglichst neue, die leicht und kompakt zu transportieren sind. Darunter ist auch eine drahtlose Tonübertragungsanlage, die Nebengeräusche dämpft und Stimmen hervorhebt, sodass Studierende mit Hörbeeinträchtigung, Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom oder Autismus-Spektrum-Störung der Vorlesung besser folgen können.
Ein Stück Detektivarbeit
Derzeit leiht sich Hernández die Geräte häufiger aus, da sie sich auf die letzten Prüfungen ihres zweiten Examens vorbereitet. Studentin mit Sehbehinderung – das bedeutet einiges an Detektivarbeit und Gedächtnisleitung. Sie deutet auf einen Drucker, der auf einem Regal an der Wand steht. „Ich sehe einen großen grauen Kasten. Wenn ich mich in einem Computer-Pool an der Universität aufhalte, weiß ich: Das ist ein Drucker. Bin ich dagegen in einem Supermarkt, weiß ich, der graue Kasten kann kein Drucker sein."
Hernández braucht nun ein juristisches Nachschlagewerk aus dem Lesesaal. Sie läuft los. Erster Gang: Arbeitsrecht, zweiter Gang: Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht, dritter Gang: Staats- und Verwaltungsrecht. So arbeitet sie sich Stück für Stück durch die Regalreihen, bis sie schließlich fündig wird: Im letzten Regal der Reihe ganz oben rechts steht das Buch.
Riesige Entlastung
„Ich präge mir meine Wege ein. Ich merke mir, in welchen Gängen die Bücher stehen, die ich brauche. Am Anfang des Studiums dachte ich noch, ich würde mich nie in der Bibliothek zurechtfinden – die vielen Räume und Schilder." Mobilitätstrainings hätten ihr dabei geholfen, sich zwischen den Regalreihen und auf dem Campus frei zu bewegen. Solche Führungen bietet der Blinden- und Sehbehindertenverein Südbaden für die Universität Freiburg an.
Die Studentin ist mittlerweile mit dem Nachschlagewerk an ihrem Platz angekommen. Erneut ertönt das leise Surren der Kamera. Anstelle von Joyces Meisterwerk liegt nun eine Seite mit Paragraphen unter der Linse. „Ich weiß nicht, wie das Menschen mit Sehbehinderung gemacht haben, die vor 20 Jahren studiert haben. Die technischen Hilfen sind eine riesige Entlastung. Ohne sie könnte ich gar nicht studieren "
Sonja Seidel
Informationen zu allen Geräten und zur Ausleihe des Hilfsmittelpools
Pressemitteilung zum neuen Hilfsmittelpool