Reich mir die Hand
Freiburg, 27.07.2018
Knapp 80 Tänzerinnen und Tänzer hat die Freiburger Tanzdozentin Christina Plötze auf der Bühne im Konzerthaus zusammengebracht. Im Vordergrund stehen nicht nur die Kunst, die Leidenschaft für Musik und formvollendete Bewegung. Plötze will mit dem Projekt zeigen, dass Tanzen auch ein Schlüssel zur Integration sein kann.
Mythische Figur: Das „Showteam Matrix“ präsentiert Igor Strawinskys „Der Feuervogel“.
Foto: Alexander Koch
Kaum sind die letzten Klänge des Orchesters „Orso“ verklungen, fällt alle Anspannung ab. Standing Ovations. Als sich die etwa 80 Tänzer auf der Bühne verbeugen, ist die Begeisterung groß. Im Verlauf des Abends hatte das Publikum die Darstellerinnen und Darsteller in drei verschiedenen Stücken gesehen: die Jüngsten in Maurice Ravels „Ma mère l’oye“, Sportstudierende in Ravels „Daphnis et Chloé“ und zum Schluss das „Showteam Matrix“ des Turnvereins Herdern in Igor Strawinskys „Der Feuervogel“.
Die drei Ballettmusiken führen in die 1910er Jahre zurück, als der russische Impresario Sergej Djagilew mit seinem weltberühmten Ensemble „Ballets Russes“ die Geschichte des Tanzes revolutionierte. An diesem Samstagabend im Juni 2018 hält Christina Plötze die Fäden in der Hand. Die Dozentin für Tanz vom Institut für Sport und Sportwissenschaft der Universität Freiburg hat das Mammutprojekt „Danse générale“ auf die Bühne gebracht.
Wenn am Ende, nach gut zweidreiviertel Stunden ein Wermutstropfen bleibt, dann, dass nun vorbei ist, was im vergangenen Semester angefangen und ein so vielfältiges Publikum in das Konzerthaus Freiburg gelockt hat: Orso-Fans und Akrobatikbegeisterte, Familie und Freunde der jungen Darsteller, Jungs mit Sidecut in Trainingshosen und kunstsinnige Frauen mittleren Alters. In der Pause eilen drei Mädchen aus der Wentzinger Realschule im Kostüm durch das Foyer, zwei Schwestern aus Syrien posieren mit einer Freundin für ein Handyfoto des Vaters. Selten überschreiten kulturelle Veranstaltungen die Grenzen zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen so sehr wie das Tanzprojekt „Danse générale“, für das Rektor Prof. Dr. Hans-Jochen Schiewer die Schirmherrschaft übernommen hat.
Dirigent Wolfgang Roese leitet das Orchester „Orso“ bei der Generalprobe an.
Foto: Alexander Koch
„Wir spielen für euch“
Szenenwechsel: Am Samstag vor der Premiere ist es in der Aula des Freiburger Friedrich-Gymnasiums schwül und voll, die Stimmung aufgekratzt. Orso-Dirigent Wolfgang Roese sorgt für Konzentration: „Hört zu, wir spielen für euch.“ Christina Plötze zählt: „Vier, fünf, sechs, freeze.“ Noch klappt das Timing des Finales nicht perfekt. „Noch einmal, so viel Zeit muss sein“, sagt die Choreografin. Die Musikerinnen und Musiker treffen bei dieser Probe das erste Mal mit der Equipe zusammen. Da ist das Showteam Matrix, das 2004 von Plötze gegründet wurde. Die Akrobatinnen und Akrobaten stechen durch ihre Körperbeherrschung und Präzision hervor. Da sind Plötzes Studierende des Schwerpunktfachs Tanz, die nicht nur selbst auftreten, sondern auch mit den Kindern und Jugendlichen die Choreografie des Märchen-Medleys „La mère l’oye“ erarbeitet und dabei ihr didaktisches Wissen unter pädagogischer Begleitung umgesetzt haben. Die Jüngsten sind die heterogenste Gruppe. Sie setzt sich aus Schülerinnen und Schülern der Wentzinger Realschule und der Lörracher Tanzschule 3-Ländereck sowie Teilnehmerinnen des „kick for girls“-Projekts zusammen, bei dem Mädchen aus Syrien, Griechenland, Serbien, Mazedonien und dem Irak mitmachen.
Mädchen können kicken
Kathrin Freudenberger, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sport und Sportwissenschaft, erzählt, dass sie bei „kick for girls“ gemerkt hätten, dass sich nicht alle jungen Migrantinnen durch den Fußball erreichen ließen. Sie selbst ist seit 2013 dabei und hat ihre Bachelorarbeit über das Projekt geschrieben. Ihr Studium schloss sie mit einer Masterthesis über den Erwerb von interkultureller Kompetenz durch informelles Lernen ab.
Liebesgeschichte und Menschenmeer: Die Freiburger Sportstudierenden überzeugen in Maurice Ravels „Daphnis et Chloé“.
Foto: Alexander Koch
Dass bei „Danse générale“ neun geflüchtete Mädchen im Konzerthaus tanzten, sei ein Highlight, aber nur der öffentlich sichtbare Teil des Community-Projekts. „Schließlich geht es auch um das Erleben von Gemeinschaft und regelmäßigen Strukturen sowie um Selbstbewusstsein und einen spielerischen Erwerb der deutschen Sprache“, berichtet Freudenberger. Einige der Schülerinnen konnten anfangs weder lesen noch schreiben. Dass Sport einen wichtigen Beitrag zur Integration leisten kann, wurde „kick for girls“ auch offiziell bestätigt: 2017 zeichnete der Deutsche Fußball-Bund das Projekt in Berlin mit dem Integrationspreis aus.
Vorbehalte gegenüber Klassik abbauen
Spricht man mit der Lehrerin Elena Hotaki, die an der Wentzinger Realschule Deutsch und Musik unterrichtet, dann erfüllt „Danse générale“ einen umfassenden Bildungsauftrag. Das Projekt baue Vorbehalte gegenüber klassischer Musik ab, indem es den Schülern ermögliche, einen ganzheitlichen Zugang zur Musik zu finden und sie durch den Ausdruck ihrer Körper zu interpretieren. Dieser Anspruch ist auch die Grundmotivation von Christina Plötze. Bei ihr laufen alle Stränge zusammen – die pädagogischen, gesellschaftspolitischen und künstlerischen.
Plötze hat sich an der Münchner Tanzschule Iwanson im zeitgenössischen Bühnentanz und zur Tanzpädagogin ausbilden lassen, studierte Sport und Deutsch und unterrichtete die Fächer mehrere Jahre in Freiburg und Gengenbach. Bevor überhaupt die ersten Schritte geprobt wurden, schauten sich Plötze und die Studierenden Bilder von impressionistischen Malern an und lasen Gedichte und Prosatexte zur Motivgeschichte der Ballette. Plötzes pädagogisches Credo lautet: „Nicht überfordern, aber herausfordern“.
„Danse générale“ ist ein kollektiver Kraftakt, an dem der Großteil der Beteiligten ehrenamtlich gearbeitet hat. Wenn Kinder, die ansonsten unter Aufmerksamkeitsdefiziten leiden, hoch konzentriert im prall gefüllten Konzerthaus tanzen, bewege das bei allen etwas, sagt die Choreografin: „Deswegen machen wir das.“
Annette Hoffmann