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Diskussion um Impfung für Jugendliche

Ein Ethiker und ein Virologe erklären, nach welchen Faktoren die Ständige Impfkommission entscheidet - und warum Gemeinschaftsnutzen gegen individuelles Risiko abgewogen werden muss

Freiburg, 30.07.2021

Es ist eine aufgeladene Diskussion: Sollen Kinder ab 12 Jahren gegen Corona geimpft werden? Die Ständige Impfkommission (STIKO) verzichtet auf eine generelle Impfempfehlung. Wie kommt sie zu ihrer Entscheidung? Welche Faktoren spielen bei der Entscheidungsfindung in Gesellschaft und Politik überhaupt eine Rolle? Diese Fragen besprechen Dr. Joachim Boldt vom Institut für Ethik und Geschichte der Medizin und Prof. Dr. Hartmut Hengel, Virologe des Uniklinikums und von 2007-2017 selbst Mitglied der STIKO, im Gespräch mit Jürgen Reuß.


Sollen Kinder ab 12 Jahren gegen Corona geimpft werden? In Deutschland verzichtet die Ständige Impfkommission bisher auf eine generelle Impfempfehlung. Foto: klavdiyav/stock.adobe.com

Herr Hengel, wie kommt die STIKO zu ihrer Nicht-Empfehlung?

Hartmut Hengel: Die STIKO hat eine klare Standardarbeitsanweisung, nach der sie den Prinzipien der evidenzbasierten Medizin verpflichtet ist. Eine so grundlegende Empfehlung wie diese setzt eine gute Datenbasis voraus. Reines Expertentum in dem Sinne, dass man als Expert*in eine Meinung hat, kommt für die STIKO hier nicht in Frage. Sie orientiert sich an den Zahlen, die ihr vorliegen. Das war in dem Fall bisher eine singuläre Studie mit nur wenig mehr als 1000 geimpften Kindern. Für ein völlig neues Impfstoffprinzip, mit denen man keine Erfahrung hat, ist das für die Bemessung von möglichen Impfrisiken keine ausreichende Datenbasis, um eine Empfehlung für Millionen von Kindern auszusprechen. Dazu kommt die Abwägung zwischen potenziellen Impfrisiken und einer Gefährdung durch die Infektion. Da COVID-19 Kinder weit weniger stark betrifft, spricht auch dies dafür, hier vorsichtig zu sein. Ein weiterer, wenn auch für die STIKO wohl nicht maßgeblicher Punkt wäre, dass andere Menschen den Impfstoff viel dringender brauchen. Die STIKO tritt daher für eine priorisierte Impfempfehlung und priorisiertes Vorgehen ein, das die Politik aber leider verlassen hat. Von daher ist die aktuelle Empfehlung auch als Aufforderung an die Politik zu lesen, die Priorisierung beizubehalten.

Herr Boldt, fällt Ihre Empfehlung als Medizinethiker anders aus?

Joachim Boldt: Als Ethiker*in müssen wir keine Impfempfehlung aussprechen, aber wenn man sich das Problemfeld aus ethischer Sicht anschaut, ist es wichtig, klar zu sortieren, was unser Ziel ist und worauf wir hinauswollen. Woraufhin werten wir die zur Verfügung stehenden Daten aus? Für die STIKO ist das, wie Sie, Herr Hengel, ausgeführt haben, zum einen das individuelle Risiko. Aber es gibt auch andere Hinsichten, für die das Impfen relevant sein kann, zum Beispiel wen und wo wir impfen sollten, um die Ausbreitung der Krankheit so wirksam wie möglich zu stoppen. Dazu müssten wir nicht nur medizinische, sondern auch soziologische Fakten sammeln, etwa wo und in welchen Bevölkerungsschichten sich das Virus verbreitet. Nicht undenkbar wäre es, auf so einer Grundlage dann zu sagen, dass wir eine Impfung in bestimmten Stadtgebieten oder sozialen Gruppen empfehlen, weil sich dort das Virus am schnellsten ausbreitet. Aufgrund so einer Empfehlung könnten dann Menschen geimpft werden, für die bei rein individueller Risiko-Nutzen-Betrachtung noch keine Impfempfehlung ausgesprochen wird. Es ist wichtig, diese unterschiedlichen Ziele und mögliche Zielkonflikte transparent zu machen.

Wenn Schulen als Hotspots feststünden, müsste man dort impfen?

Boldt: Wenn das so wäre, dann wäre das sicher ein Argument, um dort Impfungen anzubieten, wenn das Ziel heißt, die Ausbreitung des Virus in der Bevölkerung schnell zu stoppen. Man müsste dann abwägen mit individuellem Risiko und Nutzen. Wenn das individuelle Risiko vertretbar erscheint, könnte es sinnvoll sein, dort dann verstärkt zu impfen, ja.

Selbst wenn wir noch nicht hundertprozentig sicher sind, dass das Impfrisiko wirklich so gering ist, wie es zurzeit eingeschätzt wird?

Boldt: In der Ethik sind unterschiedliche Gewichtungen möglich, wenn wir vor der Frage stehen, ob das individuelle Risiko oder der gesellschaftliche Nutzen höher zu bewerten ist. Solche Spannungsverhältnisse sind bei ethischen Überlegungen in der Regel gegeben und nicht einfach aufzulösen. Und es kommt ja noch eine dritte Überlegung hinzu, die auch Herr Hengel angeführt hat, die Priorisierung. Können wir, solange nicht genügend Impfstoff für alle da ist, verantworten, bestimmten Gruppen den Impfstoff zu geben, obwohl deren Risiko zu erkranken oder schwere Verläufe zu erleiden vergleichsweise vernachlässigbar ist? Sollten wir also in ein paar Wochen oder Monaten belastbare Daten dazu haben, dass wir Jugendliche bedenkenlos impfen können, könnte es immer noch sein, dass wir darauf verzichten, weil wir mit dem Impffortschritt in der Bevölkerung noch nicht so weit sind, dass jede Priorisierung aufgehoben werden kann. Ethische Antworten sind selten einfach.


Eine Studie mit nur wenig mehr als 1000 geimpften Kindern sei zu wenig, erklärt Hartmut Hengel: „Für ein völlig neues Impfstoffprinzip, mit denen man keine Erfahrung hat, ist das für die Bemessung von möglichen Impfrisiken keine ausreichende Datenbasis, um eine Empfehlung für Millionen von Kindern auszusprechen.“ Foto: Thomas Kunz

Und wie fällen Sie dann eine Entscheidung?

Boldt: Da hat man als Ethiker*in nicht mehr Exklusivwissen oder Kompetenzen als andere Akteur*innen in unseren demokratisch legitimierten und politischen Entscheidungsprozessen. Ein guter Ansatz ist natürlich immer zu schauen, ob man nicht Wege finden kann, die beide Werthaltungen berücksichtigt. Wie kann man das eine tun, ohne das andere zu lassen? Das geht nicht immer, aber versuchen sollte man es. Aber im Zweifelsfall kommt man an einen Punkt, der so nicht mehr lösbar ist. Da ist eine demokratische politische Entscheidung gefragt. Da müssen wir als Gesellschaft entscheiden: Was ist uns wichtiger? Wollen wir lieber alte Menschen vor schweren Krankheitsverläufen schützen, junge Menschen vor Impfrisiken schützen, oder wollen wir möglichst schnell die Hotspots trockenlegen?

Hengel: Die Zielkonflikte, die Herr Boldt gerade beschrieben hat, bestehen. Am Ende wird es darauf ankommen, wie man den Gemeinschaftsnutzen und die Herdenimmunität gegen das Risiko für diejenigen, die von der Impfung wenig profitieren, abwägt. Das ist etwas, was die Gesellschaft bewerten muss. Aus medizinischer Sicht werden wir für eine Herdenimmunität das Impfen von Kindern brauchen. Sonst behalten wir ein ständiges Reservoir für die Viruszirkulation, das diejenigen, die sich nicht impfen lassen wollen oder die keinen erfolgreichen Impfschutz aufbauen, gefährdet. Deswegen hoffe ich natürlich, dass man am Ende aufgrund solider Fakten zur Sicherheit der Impfstoffe zu einer Impfempfehlung für Kinder kommen kann. Der Grundkonflikt, dass Kinder durch Coronaviren selten krank werden, also von einer Impfung viel weniger profitieren als Ältere, bleibt allerdings auch dann bestehen.

Das ist eine ethische Frage. Warum sollten Kinder und Jugendliche sich impfen lassen?

Boldt: Oft wird in der Diskussion ja andersherum gefragt: Warum sollten sie es nicht tun? Und es wird gefragt: Die Jugendlichen mussten jetzt so viel zurückstecken, dürfen wir ihnen das Bonbon einer Impfung überhaupt weiter vorenthalten? Das ist aus meiner Sicht angesichts der bisher bekannten milden Krankheitsverläufe bei Kindern und Jugendlichen und der dünnen Datenlage zu den Risiken der Impfung in dieser Altersgruppe der falsche Ansatz. Wenn man jetzt fragt, warum Kinder sich impfen lassen sollten, dann geht es eben in erster Linie um den Schutz, den andere, die schwerer erkranken, dadurch bekommen.

Hengel: Das ist keine neue Diskussion. Ältere Menschen haben meistens ein viel höheres Risiko bei einer Infektion und profitieren von einer Impfung von Kindern und Jugendlichen, die Herdenimmunität erzeugt, ganz besonders. Mit 50 Jahren Masern oder Varizellen zu bekommen, ist lebensgefährlich. Wie viel Solidarität möchten und können wir also einfordern?

Was wäre Ihre Antwort?

Hengel: Wenn man den jungen Menschen das Warum erklärt, sind sie durchaus dazu bereit. Junge Menschen sind oft sozialer eingestellt als ältere. Das ist eine Frage der Aufklärung und Wertevermittlung. Aber natürlich bleiben die Zielkonflikte bestehen.

Impfen der Älteren und Herdenimmunität durch Ansteckung bei Jugendlichen genügen nicht?

Hengel: Am Ende wird wohl beides ineinanderfließen. Was wir brauchen, ist ein gleitender Übergang in diese frühpostpandemische Phase. Dafür sind die Impfungen ein großer Segen. Aber wir werden das Virus auch mit Impfen nicht mehr aus der Welt schaffen, es wird bei uns bleiben.


Joachim Boldt sieht die Gesellschaft vor schwierigen Entscheidungen: „Wollen wir lieber alte Menschen vor schweren Krankheitsverläufen schützen, junge Menschen vor Impfrisiken schützen, oder wollen wir möglichst schnell die Hotspots trockenlegen?“ Foto: Thomas Kunz

Welche Empfehlungen haben Sie dabei für die Politik?

Boldt: Idealerweise werden solche Fragen in einem gesamtdemokratischen Entscheidungsprozess entschieden, der möglichst nicht von Machthierarchien geprägt ist, sondern von herrschaftsfreier Kommunikation, um mal dieses alte Schlagwort des Philosophen Habermas zu benutzen. Davon sind wir in der Politik zwar ein gutes Stück weit entfernt, aber ich finde es als Zielvorstellung grundlegender Art sehr wichtig, dass man zumindest drauf hinarbeitet, dass am Ende auf diese Weise legitimierte und damit auch zumutbare Entscheidungen stehen. Das geht nie schmerzfrei ab, und es wird immer Streit geben. Aber solange wir uns in einem Prozess befinden, in dem wir versuchen, das ernst zu nehmen und gegebenenfalls nachjustieren, ist das doch gut.

Hengel: Die Impfdiskussion ist auch so aufgeladen, weil es um die wichtige Grundsatzfrage geht, wo Grenzen für die in unserer Verfassung garantierte Entscheidungsfreiheit liegen. Menschen haben auch das Recht unvernünftige Entscheidungen zu treffen. Habe ich das Recht, infiziert zu werden? Habe ich das Recht, dass mein Kind erkrankt? Als rationale Gesellschaft sollten wir im Umgang damit auf Aufklärung und die Einsichtsfähigkeit der Menschen setzen, nicht auf eine Impfpflicht. Es würde besser zu unserer Gesellschaft passen. Weltweit konkurrieren dazu ja sehr unterschiedliche Entwürfe. Meine chinesischen Doktorand*innen sind nicht überzeugt, dass unser westliches Gesellschaftsmodell das bessere ist. China ist sehr stolz darauf, dass es dort gelungen ist, die Pandemie sehr effektiv einzudämmen – zu einem aus unserer Sicht unbezahlbar hohen Preis an individueller Freiheit. Das ist eine ganz andere Sicht auf die Dinge.

Wäre es nicht sinnvoller, statt zu diskutieren, ob man Kinder und Jugendliche impft, die Weltregionen mit Impfstoff zu versorgen, die es am nötigsten haben?

Hengel: Absolut. Das ist ganz in unserem Interesse. Die Varianten kommen ja nicht zufällig aus den Ländern, in denen es ein hohes Infektionsgeschehen gibt. Es ist völlig verkürzt, zu denken, man kann hier durch regionales Handeln die Pandemie auf Dauer kontrollieren. Das wird nicht gehen. Man braucht die Impfungen weltweit.

Boldt: Auch das ist eine Erkenntnis von Corona: Uns fehlen Strukturen und Akteur*innen überstaatlicher Art in der EU, erst recht weltweit, die das Heft in die Hand nehmen, wenn eine Pandemie ausbricht. In der EU ist es immerhin gelungen, eine gemeinsame Impfbeschaffungspolitik in die Wege zu leiten, aber ich hatte gehofft, wir wären da schon einen Schritt weiter.

Hengel: Ich glaube, es gibt viele politische Lektionen aus der Pandemie. Schaut man auf Europa, sieht man, dass jedes Land seine eigene Impfempfehlung hat, die sind nicht harmonisiert. Die Fähigkeit, Impfstoffe herzustellen, ist völlig ungleichmäßig verteilt. In Deutschland gab es fast keine Impfstoffindustrie mehr, wir haben da viele Kompetenzen abgegeben. Und noch etwas: Das Risiko für Infektionen, die eine globale Relevanz bekommen, steigt. Nicht zuletzt wegen der Industrialisierung der Landwirtschaft. Wenn wir unsere industrielle Schweinehaltung betrachten, erzeugen wir die besten Voraussetzungen dafür, dass die nächste Influenza-Pandemie in Deutschland starten könnte. Das muss uns bewusst sein. Politik und Gesellschaft haben aber gern die Tendenz, diese Fakten in den Hintergrund zu rücken. Die Wissenschaft muss dem entgegenwirken.