Beats für alle Lebenslagen
Freiburg, 19.06.2020
25.000 Schallplatten hat der Sender SWR dem Zentrum für Populäre Kultur und Musik (ZPKM) der Universität Freiburg zukommen lassen. Das ZPKM-Team muss sich die Sammlung aber erst einmal erschließen: Die Platten sind nicht sortiert, es gibt keine Listen. Musikwissenschaftler Dr. Knut Holtsträter, der im ZPKM für Tonträger und Audiogeräte zuständig ist, hat vorab sechs Scheiben für besondere Augenblicke zu Tage gefördert.
15.000 LPs und Maxis sowie 10.000 Singles befinden sich im grandiosen Musikchaos, das das Team des ZPKM nun nach und nach sortiert. „Das Spektrum reicht quer durch alle Stile“, sagt Knut Holtsträter. Von Schlager über Pop, Rock und Easy Listening bis zu Jazz. Holtsträter hat Sprechplatten von Karlheinz Böhm aufgestöbert, „Ronald Reagan on the Radio“ und Scheiben, die nur Klänge oder Geräusche enthalten: „Manche dieser Schallplatten waren gar nicht für den Handel vorgesehen.“ Studiostoff, aber wie alles andere „mint“, also in einem Top-Zustand. Da Kataloge und Listen fehlen, muss sich der Fachmann die Sammlung selbst erschließen. „Da ist viel Unbekanntes dabei.“ Doch die Sammlung ist schon jetzt für einen Spaß zu haben: Für besondere Anlässe im Leben hat Knut Holtsträter sechs Platten herausgesucht – der passende Soundtrack für jede Situation.
Tanzbarer Gesprächsstoff für die Party
„Da ist für alle was drin – Elvis, Led Zeppelin und Reggae“, sagt Holtsträter zur LP „Un-Led-Ed“ (1990) der US-Band Dread Zeppelin: „Ich finde das ganz witzig.“ Die Platte war das erste Album der Truppe um den schwergewichtigen Elvis-Presley-Imitator Tortelvis, die mit Cover-Versionen große Erfolge feierte. „Die Musik stößt echte Fans aber vor den Kopf – sie wird keinem gerecht“, sagt Holtsträter. Damit habe sie das Zeug zum Gesprächsthema und könnte maulfaule Partygäste zum Stutzen und Reden bringen: Was läuft denn da? Das ist ja lustig! Aber Dread Zeppelins „Un-Led-Ed“ erfüllt für den Experten eine noch viel essentiellere Feierfunktion: „Zu der Musik lässt sich gut tanzen.“ Foto: Klaus Polkowski
Puls und sehnsüchtige Melodien verschönern Bahnfahrten
Schnelle Shuffles von Schlagzeug und Perkussionsinstrumenten: Dadurch bietet sich für Holtsträter die „Special Remix“-Maxisingle von Chris Reas „Ace of Hearts“ für lange Bahnreisen an. „Der pulsierende Rhythmus ist fast wie der einer Eisenbahn.“ Er mag den britischen Sänger, Musiker und Komponist generell. „Hier spielt er elegische Melodien und singt von Liebe und Sehnsucht“, erzählt der 47-Jährige. Das lade ein, die Gedanken beim Blick aus dem Wagonfenster schweifen zu lassen. Eigentlich perfekt für Bahnfahrten, gäbe es da nicht ein technisches Hindernis: „Schallplatten kann man in der Bahn schlecht abspielen.“ Foto: Klaus Polkowski
Ein Gute-Laune-Solo beschwingt lästige Hausarbeiten
Veronika Fischer – mit Helene weder verwandt noch verschwägert – mache „eine Mischung aus gut gemachtem Pop, der auch in den Schlager rein geht“, so Holtsträter. „Von den Texten her sehr cheesy.“ Seit Jahrzehnten zählt die Vroni besonders in Ostdeutschland, wo sie 1951 zur Welt kam, zu den großen Stars. „Eine tolle Stimme“ attestiert ihr Holtsträter. Als Untermalung für Putzen, Wischen, Bügeln und andere lästige Hausarbeiten eignet sich Fischers „Sommernachtsball“ (1977) laut ihm aus mehreren Gründen: „Die Produktion ist allererste Sahne, das Album macht gute Laune. Man muss es aber alleine hören…wegen der Texte.“ Foto: Klaus Polkowski
Nervenbalsam für den ersten Besuch bei den Schwiegereltern in spe
„Zum Besänftigen!“ Holtsträter zieht „Ron Goodwin & His Orchestra Play Burt Bacharach“ (1972) heraus: „Das Album hat mich umgehauen: Es präsentiert ein großes Orchester, eine Bigband mit Streichern, die hochwertig produzierte Instrumentalmusik spielt, bei der jedes Lied bekannt ist.“ Der 1928 geborene US-Komponist Burt Bacharach hat mehrere Oscars und Grammys gewonnen. Auf der Platte erklingen Welt-Hits wie „I Say A Little Prayer“ und „Raindrops Keep Falling on My Head“. Der Engländer Ron Goodwin (1925–2003) hat berühmte Soundtracks geschrieben, etwa zu Disney-Filmen, zu Albert Hitchcocks „Frenzy“ und die Titelmelodie der „Miss Marple“-Filme mit Margaret Rutherford. Foto: Klaus Polkowski
Aufgekratzt und angestachelt: So kommt Mumm in die Menge
Durch sein Format fällt „Prima Tanzmusik“ auf: Zehn Zoll – größer als Singles, kleiner als LPs. „Das ist eine typische EP“, erklärt Holtsträter. So heißen meistens Scheiben, die zu viele Tracks enthalten, um als Single zu gelten, gleichzeitig jedoch nicht genug, um als vollwertiges Album zu taugen. „Der Sampler enthält zwar elf Stücke, allerdings kurze. Alle Songs sind auf Deutsch gesungen und gehen Richtung Wave und Punk.“ Zu den Interpretinnen und Interpreten gehören Größen der Neuen Deutschen Welle wie Trio und Extrabreit, aber auch weniger bekannte wie Tempo und Cats TV. Letztere singen anfeuernd vom „Killer-Automat“, Trio von „Polizisten“. „Zum Aufkratzen“, findet der Musikwissenschaftler, „Nicht alles ist Gold, aber ein paar Killer-Tracks sind dabei.“ Er könnte sich vorstellen, damit eine Demo oder einen Umzug wie am Christopher-Street-Day anzuheizen. Foto: Klaus Polkowski
Leider zu jung, um das je live erlebt zu haben
„Captain Beefheart hat eine krasse Bühnenpräsenz.“ Die kennt Holtsträter leider nur aus YouTube-Videos. Er war 1982 neun Jahre alt, als sich der Captain von der Musik ab- und völlig der Malerei zuwandte. „Vorher hat er ganz merkwürdige Rockmusik gemacht – minimalistisch, sehr abstrakt, ein bisschen kaputt“, beschreibt Holtsträter. „Es kann zum Beispiel sein, dass der Rhythmus irgendwann holpert und stolpert.“ Als spannend bewertet er auch die oft dadaistischen Texte und wählt als Hörbeispiel Beefhearts letztes Album „Ice Cream for Crow“ aus. Zu gerne hätte Holtsträter gesehen, wie der Multiinstrumentalist, Sänger und Komponist live auf der Bühne mit seiner Magic Band umspringt: „So chaotisch das klingt, Captain Beefheart war da ganz klar der Chef.“ 2010 ist der Künstler gestorben. Foto: Klaus Polkowski
Die Informationen der SWR-Platten werden mit der Zeit in das Archivsystem des ZKPM integriert, die Sammlung wird aber als solche zusammengehalten. „Ich nutze einzelne Platten sicher bald in der Lehre“, sagt Holtsträter. Konkrete Forschungsfragen hat er momentan aber nicht an die Sammlung: „Mein aktuelles Projekt befasst sich mit Schellack-Platten aus der DDR.“ Trotz seiner enormen Breite hat das SWR-Konvolut hier nur wenig zu bieten.
Jürgen Schickinger
Zentrum für Populäre Kultur und Musik