Strom aus Nachbars Garten
Freiburg, 12.12.2018
Oxygen Technologies will den Strommarkt fit für die Zukunft machen: Die Software des Start-ups aus dem Freiburger Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE und der Albert-Ludwigs-Universität steuert in Echtzeit die optimale Auslastung von Stromnetzen. Dabei kann die Energie von Tausenden Kleinerzeugern kommen. Deren Überschüsse können Energieversorger zu virtuellen Kraftwerken bündeln und selbst vermarkten.
Kleinerzeuger machen sich bereit: Ab 2021 kommen Überschüsse aus privaten Ökostromanlagen in den freien Handel. Foto: gopper0815/Fotolia
„Wir haben eine Art ‚Airbnb‘ für Energie entwickelt“, sagt Gregor Rohbogner, der Geschäftsführer von Oxygen Technologies. Ab 2021 kommen Überschüsse aus privaten Ökostromanlagen in den freien Handel. „Durch unsere Technologie kann eine Nachbarin mit Solarstromanlage überschüssige Energie direkt ihrem Nachbarn mit Elektroauto verkaufen“, sagt Rohbogner. Ebenso könnten große Energieversorger solche Überschüsse bündeln und gegen Gebühren weitervermitteln. Doch Kilowattstunden sind keine Appartements, wie sie die Plattform Airbnb anbietet. Die Software von Oxygen Technologies muss andere Anforderungen erfüllen. Das Konzept scheint allerdings zu überzeugen: Die Energiewerke Schönau EWS und die EGT aus Triberg sind im April 2018 bei dem Start-up eingestiegen.
Rohbogner will den Strommarkt für die Digitalisierung und die dezentrale Erzeugung bereit machen. „Sie wird die Struktur des Markts total verändern, ähnlich wie der Onlinehandel gerade den Einzelhandel umkrempelt.“ Das Kernmodel des Start-ups besteht in einem virtuellen, digitalen Kraftwerk für Energieversorger: „Sie müssen ihren klassischen Energievertrieb langfristig durch digitale Energiedienstleistungen ersetzen.“ Modell zwei ist eine bürgernahe Version, eben jenes „Airbnb“ für Prosumer. Dieser Ausdruck verbindet zwei englische Verben – „to produce“ für erzeugen und „to consume“ für verbrauchen. Prosumer stellen also etwas her und können es selbst verbrauchen oder veräußern.
Die Firma kümmert sich um die deutsche Ökostrom-Ernte. 42 Prozent davon produzierten Landwirte und andere Privatpersonen 2016 mit ihren rund 1,5 Millionen Wind-, Wasserkraft-, Biogas- und Solaranlagen. Bis 2020 garantiert das Erneuerbare-Energie-Gesetz den Betreibern, dass sie Überschüsse zu fixen Preisen ins Netz einspeisen dürfen. Dann fallen die ersten Anlagen aus der Förderung. „Ab da müssen Prosumer ihre Energie entweder selbst verbrauchen oder selbst vermarkten“, erklärt Rohbogner. Im aktuellen Energiesystem enthält die Verwertungskette zwischen Erzeuger und Verbraucher aber zu viele Stationen, die mit verdienen. Heutige Haupthürde für eine schnelle Einführung eines „Airbnb für Strom“ stellen die alten Gesetze und Regeln der Energiewirtschaft da. Trotzdem können interessierte Prosumer und Energieanlagenbesitzer an der ersten deutschen Projektregion für dezentralen Stromhandel der EWS Schönau teilnehmen.
Kein Blindflug mehr im Stromnetz
Es gibt ein zweites Problem. Überschüsse sind im Stromnetz gefährlich: Dort darf nur so viel Energie unterwegs sein, wie aktuell tatsächlich in den Verbrauch abfließt. „Eine physikalische Notwendigkeit“, erläutert Rohbogner. Derzeit schätzen Energieversorger noch ab, wie viel Strom ihre Abnehmer in den nächsten 24 Stunden verbrauchen. Die Erzeuger speisen diese Menge dann ins System der Netzbetreiber ein. Das funktioniert, weil wenige große Kraftwerke den Löwenanteil liefern. Im haushaltsüblichen Spannungsbereich unterhalb der Hochspannung wissen Netzbetreiber laut Rohbogner viel zu wenig darüber, was auf ihren Energieautobahnen passiert: „Sie sind im Blindflug unterwegs.“ Beim Ökostrom verkomplizieren die Millionen verteilter Kleinanlagen die Situation zusätzlich.
In Echtzeit die optimale Auslastung steuern: Fließt etwa zu wenig Strom im Netz, meldet die Software das der Ladesäule vom Elektroauto. Foto: Herr Loeffler/Fotolia
Die Energieversorger müssen digitalisieren
Einen Ausweg bietet ein kleiner Computer, der Energie-Concierge oder kurz E-Concierge von Oxygen Technologies: „Er muss an jede Anlage, die Strom erzeugen kann, und an alle Anschlüsse von Verbrauchern.“ Ist wenig Strom im Netz, sagt der E-Concierge zur Ladesäule vom E-Auto: „Mach mal langsam!“ Fließt viel Strom durch die Kabel, fahren Anlagen zur Ökostromgewinnung auf Befehl ihre Einspeisung herunter. „Jede Minute gibt jeder einzelne Automat an, was er verbraucht und was er aktuell herstellen kann“, erklärt Rohbogner, „Die Hardware kommt von Partnern. Wir liefern die Software.“ Mit diesem ausgeklügelten Algorithmus steuert der E-Concierge in Echtzeit alle regulierbaren Geräte so, dass immer exakt genug Saft durchs Netzt fließt.
Eine Voraussetzung benötigt der E-Concierge allerdings: digitale Stromzähler an allen Geräten. Der Einbau der Zähler läuft derzeit schon an. Mit ihren digitalen Daten wird der E-Concierge nicht nur Angebot und Bedarf im Netz anpassen. Kleinerzeuger können über den cleveren Kasten ihre Überschüsse an eine einschlägige Handelsplattform für Strom melden. Der Nachbar mit dem E-Auto kann dort Energie kaufen, wenn er sie braucht oder sie gerade günstig ist. „Alle Beteiligten schicken sich untereinander wechselseitig die Mengen und Gebote zu. Unser Stromhandelsalgorithmus errechnet, wer, wann zu welchen Bedingungen Strom anbieten und beziehen kann.“ Der aktuelle Preis richtet sich wie immer nach Angebot und Nachfrage.
Virtuelle Kraftwerke unter eigenem Logo
Per E-Concierge können Energieversorger auch erstmals Stromüberschüsse von Tausenden Kleinanlagen virtuell auf einem zentralen Server bündeln. Dazu schließen Energieversorger und Kleinerzeuger Verträge. „Wir dürfen deine Anlage betreiben und erhalten dafür einige wenige Cent pro Kilowattstunde, die wir vertreiben“, nennt Rohbogner ein Beispiel. So bauen Energieversorger aus kleinen Beiträgen ein virtuelles Kraftwerk zusammen, eine „Virtual Power Plant“.
„Ich habe schon am ISE ein Team geleitet, das an dezentralen Managementsystemen gearbeitet hat“, erzählt Rohbogner. Die sind für den kommenden Energiemarkt hoch interessant, fiel ihm und seinen ISE-Kollegen auf. Zu viert gründeten sie Oxygen Technologies. Das Gründerbüro der Universität hat ihnen dabei geholfen, einen erfolgreichen Antrag für einen EXIST-Forschungstransfer, eine Förderung der Bundesregierung, zu stellen. Jetzt lassen EWS und EGT neues Know-how und Infrastruktur in das junge Unternehmen mit einfließen. „Bisher lief alles glatt durch. Die Technologie ist fertig und wir haben Kunden“, freut sich Rohbogner. Wegen der hohen Nachfrage muss Oxygen Technologies sein Team kräftig verstärken. Im Moment beschäftigt die Firma rund 20 Mitarbeitende; bis Ende 2019 sollen es 35 sein.
Jürgen Schickinger