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„Ohne Aufarbeitung in den ehemaligen Kolonialzentren hält die Kolonialität an“

Zur Auslandsreise des Bundespräsidenten Steinmeier nach Tansania: Manuela Boatcă, Andreas Mehler und Johanna Pink über die Auseinandersetzung mit dem Erbe des deutschen Kolonialismus

Freiburg, 19.10.2023

Vom 30. Oktober bis zum 1. November 2023 reist Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu einem offiziellen Besuch in die Vereinigte Republik Tansania, die ehemals Teil der Kolonie Deutsch-Ostafrika war. Dort trifft er die tansanische Präsidentin Samia Suluhu Hassan zu politischen Gesprächen. Außerdem besucht er Gräber der Opfer des Maji-Maji-Krieges und tauscht sich mit deren Nachfahren aus.

„Es ist nicht möglich, den Kolonialismus aus einer einzelnen Disziplin heraus aufzuarbeiten“, sagt Soziologin Prof. Dr. Manuela Boatcă. Gemeinsam mit dem Politikwissenschaftler Prof. Dr. Andreas Mehler und der Islamwissenschaftlerin Prof. Dr. Johanna Pink treibt sie an der Universität Freiburg inter- und transdisziplinäre Forschung zu Kolonialität und Dekolonialität voran. Im deutschen Bewusstsein, sagt Mehler, finde zwar „Namibia und der Genozid gegen Nama und Herero in gewissem Maß statt, für alle anderen afrikanischen Kolonien ist das aber nicht der Fall.“

Die anstehende Reise des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier nach Tansania biete die Chance, daran etwas zu ändern. Dass Steinmeier sich auch mit Nachfahren der Opfer des Maji-Maji-Aufstandes treffen will, deutet laut Pink darauf hin, „dass ein öffentliches Bewusstsein dafür geschaffen werden soll, dass dort deutsche Kolonialverbrechen stattgefunden haben.“

Kolonialität in Behörden- und Alltagspraktiken

Die deutschen Kolonien gehören zwar der Vergangenheit an, „Kolonialität beschreibt aber auch deren Erbe“, so Boatcă, „etwa rassistische Hierarchien, ökonomische Abhängigkeit und politische Bevormundung durch die ehemaligen Kolonialmächte.“ In Deutschland zeige sich Kolonialität heute unter anderem in Behörden- und Alltagspraktiken, beispielsweise in der Visa-Politik und der damit verbundenen Frage, wer wohin reisen dürfe: Selbst für Wissenschaftler*innen aus afrikanischen Ländern sei es sehr schwierig, Visa zu bekommen. Diese Visa-Politik, sagt Pink, weise nach wie vor Spuren von kolonialem Rassismus auf. Ähnliches zeige sich auch in Alltagspraktiken wie der unterschiedlichen Bewertung von Mehrsprachigkeit: „Manche Sprachen gelten als Asset, andere eher als Problem.“

Mediale und politische Diskurse, sagt Boatcă, „sind immer noch von einer Hierarchie zwischen ehemaliger Kolonie und ehemaliger Kolonialmacht geprägt“. Die Auseinandersetzung damit liege in der Verantwortung der ehemaligen Kolonialzentren. „Solange dort keine Aufarbeitung stattfindet“, so Boatcă „hält die Kolonialität an“.

Restitution gestohlener Kulturgüter als Chance

Die Rückgabe gestohlener Kulturgüter birgt Chancen für die Aufarbeitung. „Wir haben einfach genommen, was wir gerne haben wollten“, sagt Mehler. „Das Unrecht von damals können wir nicht ungeschehen machen. Aber wir können darüber eine geeignete Erinnerungspolitik anstoßen“ Gleichwohl gäbe es auch in diesem Diskurs „kolonial geprägte Abwehrreflexe“, so Pink. Schnell werde dann die Frage aufgeworfen: „Können die sich in Land X überhaupt um die Kulturgüter kümmern?“ Das zeige eine immer noch existierende Hierarchie, ergänzt Boatcă.

De/Kolonialität interdisziplinär betrachten

„Von Fragen der Restitution von Kulturgütern über wirtschaftliche Extraktion von Ressourcen und völkerrechtliche Verträge bis hin zur Sprache – das Thema De/Kolonialität, umfasst alle Gesellschaftsbereiche“, sagt Pink – gerade deshalb sei der Mehrwert einer interdisziplinären Herangehensweise so groß. Auf dieser Grundlage ist es dann möglich, einen „Teil der Vergangenheit, den wir bisher ausgeblendet haben, ernst zu nehmen und anzuerkennen“, so Mehler: „Aus Deutschland ist Leid über die Welt gekommen - auch im deutschen Kolonialismus.“

 

Manuela Boatcă, Andreas Mehler und Johanna Pink stehen für Medienanfragen gerne zur Verfügung.

 

Mehr zur Initiative De/Coloniality Now:

https://uni-freiburg.de/universitaet/coloniality-decoloniality/

 
Manuela Boatcă


Professur für Soziologie mit Schwerpunkt Sozialstruktur und Globalisierung
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Telefon: +49 761 203-3495
E-Mail:

 

Andreas Mehler

Direktor Arnold Bergstraesser Institut für kulturwissenschaftliche Forschung
Professor für Entwicklungstheorien und Entwicklungspolitik
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Telefon: +49 761 888 78-14
E-Mail:

 
Johanna Pink

Professur für Islamwissenschaften und die Geschichte des Islam
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Telefon: +49 761 203-3144
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Hochschul- und Wissenschaftskommunikation
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Tel.: 0761/203-4302
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