Die Krux mit der Verfassung
Freiburg, 11.10.2017
Der Konflikt zwischen der spanischen Zentralregierung und der Regionalregierung von Katalonien ist aktuell in den Medien präsent. Unklar ist vielen Beobachterinnen und Beobachtern jedoch, warum die als diszipliniert, arbeitsam und bedächtig geltenden Katalanen eine solche Auseinandersetzung scheinbar vom Zaun brechen. Die Katalanen, ein unterdrücktes Volk?
„Wenn man zum Vergleich Minderheiten heranzieht, die tagtäglich mit Pogromen rechnen und um Leib und Leben fürchten müssen, stellt sich dieser Eindruck natürlich nicht ein“, sagt Dr. Claus D. Pusch vom Romanischen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Als Vergleichsmaßstab für Katalonien oder das Spanien der Autonomien müssten aber eher Staaten wie die Schweiz, Belgien, Finnland, Großbritannien oder Kanada herangezogen werden.
Frage man Katalaninnen und Katalanen, wann die aktuelle Unabhängigkeitskontroverse eingesetzt habe, werde nahezu unisono auf die von der spanischen Volkspartei Partido Popular (PP) – damals in der Oppositionsrolle – initiierte Klage gegen das neue Autonomiestatut verwiesen, das 2006 vorgelegt und 2010 vom spanischen Verfassungsgericht in Teilen als verfassungswidrig erklärt wurde. „So blieb in den Augen vieler Katalanen nur eine arg ‚weichgespülte‘ Fassung in Kraft und die Chance auf eine Weiterentwicklung des autonomen Status der Region war erst einmal vertan.“ Auch andere Maßnahmen der Zentralregierung seien in Katalonien als gezielte Konterkarierung regionaler Entscheidungen wahrgenommen worden. Ein Beispiel: Im Jahr 2010 verbot Katalonien als zweite Region Spaniens den Stierkampf, teils aus Tierschutzgründen, teils aber auch, weil er nicht als Element der katalanischen Kultur gesehen wurde, erläutert Pusch. Die konservative Volkspartei PP jedoch erklärte den Stierkampf zum ‚nationalen Kulturerbe‘ und ließ das katalanische Verbot vom Verfassungsgericht kassieren.
Dass die Zentralregierung überhaupt in Fragen von Kultur oder in andere regionale Belange eingreifen könne, liege daran, dass Spanien kein föderaler Staat sei. „Selbst in Politikbereichen, die etwa in der Bundesrepublik Deutschland oder der Schweiz nahezu selbstverständlich ausschließlich Länder- oder Kantonsangelegenheiten sind, gibt es in Spanien komplexe Kompetenzverteilungen zwischen zentralen und regionalen Entscheidungsträgern, die Konflikte geradezu provozieren.“ Die Verfassung von 1978 sei bisher nicht weiterentwickelt worden, sodass die Möglichkeiten und Interpretationsspielräume der Zentralregierung massiv davon abhingen, welche Partei gerade an der Macht sei. „Dass diese Verfassung gültig ist und deshalb das katalanische Referendum vom 1. Oktober 2017 und eine mögliche Unabhängigkeitserklärung verfassungswidrig sind, steht außer Frage.“ Außer Frage stehe auch, dass sicher nicht 90 Prozent aller Einwohner Kataloniens für diese Unabhängigkeit sind.
Welche weiteren Wege, abgesehen vom unwahrscheinlichen Fall, dass es tatsächlich zu einer Republik Katalonien komme, wären denkbar? Eine Option wäre eine durchdachte Verfassungsreform mit dem Ziel, Spanien in ein föderales Staatswesen umzugestalten. „Das wäre ein nachhaltiger Weg, der aber nicht beschritten werden wird, solange die spanische Rechte jede Art von Föderalismus als ‚Teufelszeug‘ erachtet und die spanische Linke sich nicht eindeutig positioniert.“ Zudem wäre er langwierig. Eine andere Option wäre eine erweiterte Autonomie für Katalonien etwa nach dem Muster, wie sie die baskische Region Euskadi besitzt. Das wäre Pusch zufolge ein pragmatischer Weg, der in einem überschaubaren Zeitraum gangbar wäre. Eine dritte Option wäre, dass die Zentralregierung die aktuellen Ereignisse als Begründung heranzieht, um die Autonomierechte Kataloniens nicht zu verändern oder gar einzuschränken. „Das wäre ein kurzfristiger und zugleich kurzsichtiger Weg, denn der Konflikt würde sich dadurch in die Länge ziehen und womöglich in Teilen der katalanischen Gesellschaft Gewaltbereitschaft bewirken.“
Ein trauriges Bild liefere in diesem Zusammenhang die Europäische Union, die sich vornehm beziehungsweise hilflos heraushalte, obwohl allen Beteiligten klar sei, dass es hier nicht mehr um eine ‚innere Angelegenheit Spaniens‘ gehe. „Es ist davon auszugehen, dass aus Katalonien, das sich in der Vergangenheit stets als europafreundlich dargestellt hat, nun eine, um es vorsichtig auszudrücken, sehr europakritische Region werden wird.“
Dr. Claus D. Pusch ist Sprachwissenschaftler und seit 2007 Akademischer Rat am Romanischen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Zu seinen Forschungsinteressen gehören unter anderem die empirisch-korpusbasierte Beschreibung der romanischen Sprachen mit Schwerpunkten auf dem außereuropäischen Französisch und dem Katalanischen. Er ist Mitherausgeber der „Zeitschrift für Katalanistik“, dem deutschen Fachorgan für katalanische Sprach- und Literaturwissenschaft.
Dr. Claus D. Pusch
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