Die russische Nummer eins
Freiburg, 16.04.2018
Als die FIFA am 2. Dezember 2010 ihre Entscheidung bekanntgab, Russland zum Ausrichter des größten Fußballturniers der Welt ausgewählt zu haben, wurde über die politische Tragweite dieses Ereignisses diskutiert und gestritten. „Nur die wenigsten haben sich die Frage gestellt, was die Ausrichtung des Turniers für die russischen Fußballfans und die Entwicklung dieses Sports in dem Land bedeutet“, sagt Historiker Dr. Peter Kaiser von der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Die spontane Begeisterung zwischen Kaliningrad und Wladiwostok, die bei der Bekanntgabe des Wahlergebnisses ausbrach und bis heute anhält, ließe sich nur mit einem Blick auf die Geschichte des russischen Fußballs verstehen.
Angesichts der momentanen Schwäche der russischen Nationalmannschaft blickten die Fans mit Sehnsucht auf die vergangenen glorreichen Zeiten zurück. „Im Jahr 1956 gewann die Mannschaft der UdSSR, als deren rechtliche Nachfolgerin sich die russische Fußballmannschaft sieht, völlig überraschend das olympische Fußballturnier in Australien, 1960 folgte dann der Gewinn der ersten Europameisterschaft in Frankreich; 1964 und 1972 war man dann beim kontinentalen Kräftemessen jeweils Zweiter“, erläutert Kaiser. 1966 in England habe Russland als Vierter das beste Weltmeisterschaftsergebnis der eigenen Geschichte erzielt. Es sei die Blütezeit des sowjetischen Fußballs gewesen, in der die Namen des Torwarts Lew Jaschin, des ungarischstämmigen Mittelfeldstrategen József Szabó und der Angreifer Wiktor Ponedelnik oder Eduard Malofejew internationale Bekanntheit erlangten. „Mitte der 1980er Jahre schaffte es die sowjetische Nationalelf, die vor allem durch die Person des legendären Trainers Valeri Lobanowski entscheidend geprägt wurde, noch einmal kurzfristig den Anschluss an die absolute Weltspitze, als sie die Europameisterschaft 1988 in Deutschland als Zweiter beendete.“
Seit dem Zerfall der UdSSR ließe sich die Tendenz beobachten, dass die russische Nationalmannschaft zunehmend im Schatten des Klubfußballs stehe. „Nach dem überraschenden Erreichen des Halbfinales bei der Europameisterschaft 2008, wo man gegen den späteren Europameister Spanien ausschied, warten die Fußballfans in Russland vergeblich auf vergleichbare Wundertaten ihres Teams.“ Das größte Problem scheine dabei die fehlende internationale Erfahrung russischer Spieler zu sein. Hinzu käme eine eher unglückliche Politik des Russischen Fußballverbandes bei der Suche nach geeigneten Trainern: Auch bekannte ausländische Trainer wie Dick Advocaat, Guus Hiddink oder Fabio Capello brachten keinen dauerhaften Erfolg.
Der Fußball sei in Russland schon immer mehr als bloß „die wichtigste Nebensache der Welt“ gewesen. Sowohl zur Sowjetzeit als auch in der nachsowjetischen Epoche habe das Spiel nicht nur die Zuneigung seitens der Millionen einfacher Bürgerinnen und Bürger und Bürgerinnen genossen, sondern habe auch stets im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Machtgewaltigen gestanden. „Und ungeachtet aller Euphorie über die jüngsten Erfolge der russischen Eishockeyspieler scheint eins klar zu sein: Fußball war und bleibt auch in Russland der Sport Nummer eins. Und das nicht nur für die einfachen Fans.“
Dr. Peter Kaiser ist seit 2017 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Freiburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen unter anderem die Geschichte der Medien in Osteuropa, die GUS-Staaten und Russland nach 1991.
Dr. Peter Kaiser
Lehrstuhl für Neuere und Osteuropäische Geschichte
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