„Die Nato ist historisch beispiellos“
Freiburg, 26.03.2024
Herr Eckel, am 4. April 2024 wird die Nato 75 Jahre alt. Eine Erfolgsgeschichte?
Es gibt die Nato zumindest noch – das ist nicht selbstverständlich und deshalb bemerkenswert, weil sich die internationale Politik in den vergangenen 75 Jahren ja dramatisch verändert hat. Zumal diese Organisation historisch beispiellos ist: Ein derart dauerhaftes, weitreichendes und so viele Staaten umfassendes Militär- und Verteidigungsbündnis hatte es zuvor nicht gegeben – und auch seitdem ist nichts Vergleichbares entstanden. Als zweite Antwort auf die Frage würde ich sagen: Gemessen an dem, was die Gründer und frühen Gestalter der Nato im Sinn hatten, hat sie viele ihrer Ziele erreicht.
Was waren denn die Ziele der Nato bei ihrer Gründung?
Vor allen Dingen, einen Krieg in Europa zu verhindern, was zumindest eine lange Zeit gelungen ist, und die Sowjetunion in Schach zu halten. Damit verknüpft war das Ziel, ein enges politisches Bündnis zu schaffen. Das sollte dafür sorgen, dass einerseits die USA in Europa präsent sind – sicher auch, um Einfluss auszuüben – , andererseits die Europäer sich aber auch selbst um ihre eigene Verteidigung kümmern. Es gibt einen berühmten Satz, von dem niemand weiß, ob der erste Nato-Generalsekretär Lord Hastings Ismay ihn tatsächlich gesagt hat: Das Ziel des Bündnisses sei es, „to keep the Russians out, the Americans in and the Germans down“ („die Russen draußen, die Amerikaner drinnen und die Deutschen klein zu halten“). Gerade am Anfang war die Furcht vor dem Wiedererstarken des deutschen Militarismus groß. Im Grunde hat die Nato tatsächlich zu diesen Entwicklungen beigetragen.
Wie hat sich die Rolle der Nato seit der Gründung gewandelt, vor allem durch das Ende des Kalten Krieges?
Geschichtswissenschaftlich ist vieles zum Innenleben dieser Organisation noch gar nicht erforscht. Soweit wir Einblick haben, war die Nato aber nie eine statische Organisation, ihre Geschichte war auch schon während des Kalten Krieges von Konjunkturen und Krisen geprägt. Zum Teil gab es auf der amerikanischen Seiten schon damals das Bedürfnis, dass die Europäer mehr für ihre eigene Verteidigung tun, auch finanziell, es gab die Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland 1955, den Rückzug der französischen Streitkräfte unter Charles de Gaulle Ende der 1960er Jahre. Immer wieder musste mühsam austariert werden, wer innerhalb der Nato eigentlich entscheiden durfte, die Zusammenarbeit war durchaus nicht reibungsfrei. Der Nato-Doppelbeschluss Anfang der 1980er Jahre, also die Entscheidung, die atomare Aufrüstung in Europa zu verstärken, rief in vielen Ländern massive Proteste der Zivilgesellschaft hervor – in Deutschland die bis dahin größten Demonstrationen in der Geschichte der Bundesrepublik. Und in der komplizierten Übergangsphase der 1990er Jahre führte die Nato in Bosnien, dem Kosovo und Serbien zum erste Mal tatsächlich Krieg.
Die entscheidende Zäsur war aber von heute aus betrachtet das Ende des Kalten Krieges, denn damals tat sich die Frage auf, was mit einer Organisation passiert, deren Funktion so stark im Kalten Krieg verwurzelt war. Von hier führt auch eine Linie bis zum aktuellen Krieg Russlands gegen die Ukraine: Das Putin-Regime verbreitet ja schon länger das Narrativ, dass es ein Versprechen des Westens gegeben habe, die Nato werden nicht nach Osten erweitert. Dieses Versprechen sei gebrochen worden, was nur den aggressiven und gegen Russland gerichteten Charakter der Nato beweise. Hier zeigt sich einer der wichtigsten Impulse von Putins Politik: der nicht verschmerzte Verlust des Imperiums durch das Ende der Sowjetunion.
Heute kann man mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass es ein irgendwie förmliches Versprechen nicht gegeben hat. Aber auch in der wissenschaftlichen Diskussion ist es nach wie vor eine umstrittene Frage, ob die Politik der USA in den frühen 1990er Jahren sinnvoll und berechtigt war. Damals ist relativ schnell entschieden worden, dass die Nato bestehen bleibt, dass das wiedervereinigte Deutschland einbezogen wird. Und ab Mitte, Ende der 1990er Jahre wurde dann auch klar, dass die Nato um ostmitteleuropäische Staaten erweitert werden soll und Russland nicht dazugehören wird. Ob man länger hätte versuchen können, verschiedene Kooperationsangebote zu machen und Optionen offen zu halten, ist eine wichtige Frage, die aber eben hypothetisch bleiben muss.
Braucht es die Nato heute, nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, dringender denn je?
Zumindest bedeuten die Veränderungen der letzten Jahre tatsächlich dramatische Einschnitte: Einerseits hat Donald Trump in seiner Amtszeit den Wert dieses Bündnisses grundsätzlich in Frage gestellt – das hat kein amerikanischer Präsident vor ihm seit 1949 getan. Andererseits ist die Nato gerade wieder erweitert worden, um Finnland und Schweden. Besonders für das schwedische Selbstverständnis spielte die Tradition der Neutralität, die teilweise Jahrhunderte weit zurückgeführt wird, eine ganz wichtige Rolle. Aber die Gefahreneinschätzung in Schweden hat sich offenkundig so stark geändert, dass Schweden mit dieser Tradition bricht und Mitglied der Nato wird. Die baltischen Länder schauen ohnehin schon seit der russischen Annexion der Krim 2014 anders auf Russland, als es damals zumindest die Mehrheit der deutschen Politik getan hat. Ich denke, ein Kollaps oder eine Auflösung der Nato ist in naher Zukunft sicher nicht zu erwarten; aus meiner Sicht hat sich Putin verkalkuliert: Er wollte eine schwächere Nato, er hat eine stärkere Nato bekommen. Eine Wiederwahl Trumps würde aber größere Ungewissheit bringen, wie es weitergeht.
Welche Rolle wird die Nato in nächster Zukunft spielen?
Heute wird über die Nato wieder als kollektives Verteidigungsbündnis gegen einen bewaffneten äußeren Feind nachgedacht; es geht um Abschreckungsmechanismen und ihre Wirkweisen. Die internationale Politik hat sich dramatisch geändert – aber diese Kernsituation des Kalten Krieges ist in veränderter Form jetzt wieder gegeben. Es werden wieder klassische Szenarien diskutiert: Was passiert, wenn Putin Atomraketen einsetzt? Was passiert, wenn er als nächstes ein Nato-Mitglied wie Polen oder die baltischen Länder angreift? Dann könnte tatsächlich der Bündnisfall eintreten, bei dem die gesamte Nato einem Mitglied Beistand bei einem Angriff leistet. Ein Fall übrigens, der während des Kalten Krieges kein einziges Mal eingetreten ist: Die Nato hat in ihrer 75-jährigen Geschichte erst einmal den Bündnisfall erklärt, nach den Terrorattacken auf die USA vom 11. September 2001.
Jan Eckel steht gerne für Medienanfragen zur Verfügung.
- Prof. Dr. Jan Eckel ist seit 2021 Professor für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Universität Freiburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte der Geistes- und Geschichtswissenschaften, der Menschenrechte sowie der internationalen Politik im 20. Jahrhundert. Eckel wirkt mit an der Exzellenzclusterinitiative „Constitution as Practice in Times of Transformation (ConTrans)“ der Universität Freiburg. Weitere Informationen dazu sowie zur Freiburg Exzellenzstrategie insgesamt finden Sie hier.
Prof. Dr. Jan Eckel
Professur für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte
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