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300. Geburtstag von Kant: „Das Vernunftgesetz ist das Gesetz unserer Freiheit.“

Am 22. April 1724 wurde der Philosoph Immanuel Kant geboren. Prof. Dr. Inga Römer, Professorin für Philosophie mit dem Schwerpunkt Hermeneutik und Phänomenologie an der Universität Freiburg, spricht im Interview über die Grundgedanken seiner Ethik und darüber, was Kant uns heute noch zu sagen hat.

Freiburg, 22.04.2024

300. Geburtstag von Kant: „Das Vernunftgesetz ist das Gesetz unserer Freiheit.“

Prof. Dr. Inga Römer, Foto: privat

Frau Römer, aktuell gibt es im Supermarkt schon Erdbeeren zu kaufen. Allerdings kommen sie im Moment noch aus dem Süden Europas und beim Anbau werden große Mengen Wasser verbraucht. Was würde Kant sagen? Darf ich diese Erdbeeren kaufen?

Kant hat kein Handbuch der Lebensführung geschrieben, das uns in jedem Moment konkret sagt, was wir zu tun haben. Ihm zufolge gibt es stattdessen ein Grundprinzip, das er in seiner Kritik der praktischen Vernunft das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft nennt: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ Das ist der berühmte kategorische Imperativ, der weit über Philosoph*innenkreise hinaus bekannt ist und den wir mithilfe unserer eigenen Urteilskraft auf konkrete Situationen anwenden müssen.

Was genau meint Kant mit diesem Grundprinzip?

Darüber, was es genau bedeutet und wie es konkret angewendet wird, gibt es eine lange und kontroverse Debatte. Kant hat es zunächst im Rahmen einer Grundlegung der Ethik entwickelt, in der es um die Bewertung von Maximen geht. Die Maximen, von denen er spricht, sind subjektive Grundsätze meines Handelns. Grob gesagt fordert der kategorische Imperativ mich dazu auf, mir in diesem subjektiven Grundsatz nichts herauszunehmen, was ich anderen auf der Basis desselben Handlungsgrundsatzes nicht zugestehen kann.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Ein Beispiel ist das des falschen Versprechens. Ich könnte die Maxime haben, dass es gut ist, Gewinn zu machen, indem ich falsche Versprechen gebe, das heißt Versprechen, die ich nicht zu halten gedenke. Wenn dieses Prinzip ein allgemeines Gesetz wäre und alle faktisch danach handelten, könnte ich mein in der Maxime formuliertes Ziel der Bereicherung durch falsche Versprechen nicht erfolgreich verfolgen, denn man würde davon ausgehen, dass das Versprechen falsch ist und mir das versuchterweise Erschwindelte gar nicht geben. Das ist der „Widerspruch“, der nach Kant in der moralisch verbotenen Maxime besteht, sobald sie Geltung im Sinne eines allgemeinen Gesetzes hätte. Um auf Ihr Eingangsbeispiel zurückzukommen: Man müsste Handlungsmöglichkeiten, ihnen zugrunde liegende praktische Regeln sowie schließlich noch allgemeinere Handlungsmaximen erwägen und letztere dann durch den kategorischen Imperativ prüfen, um herauszufinden, welche mindestens erlaubt sind. Kant unterscheidet noch zwei Arten des Widerspruchs, was wir hier vernachlässigen. Nicht vernachlässigen darf man jedoch den wichtigen Unterschied zwischen Ethik und Recht.

Und was bedeutet der kategorische Imperativ in Bezug auf das Recht?

Im Recht werden diese subjektiven Grundsätze, allgemeiner gesprochen innere Gedanken, Prinzipien und Motivationen, nicht bewertet. Das ist für Kant entscheidend: Kein Mensch und kein Staat kann in andere Menschen hineinschauen und sich anmaßen, ihre Maximen zu bewerten. Das wäre „Gesinnungsterror“, würden wir heute sagen. Stattdessen geht es im Recht allein um äußerlich erscheinende Handlungen. Das von Kant so genannte „allgemeine Rechtsgesetz“ lautet dementsprechend: „handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne“. Auch hier gibt es selbstverständlich wieder intensiv diskutierte Fragen nach der Bedeutung und der Anwendung dieses Gesetzes.

Welche Grundüberzeugungen Kants stecken im kategorischen Imperativ?

Zum einen entspringt dieses Prinzip dem, was Kant eine „reine praktische Vernunft“ nennt. Es stammt also weder aus der Natur noch aus einer staatlichen Autorität noch auch aus einem göttlichen Willen, sondern allein aus der Vernunft. Ein zweiter Aspekt hängt hiermit direkt zusammen: Dieses Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft ist das Gesetz unserer Freiheit. Dieses Vernunftgesetz schränkt unsere Freiheit nicht ein, sondern macht sie im Gegenteil aus. Wir haben Autonomie im wörtlichen Sinne, weil wir das Vermögen haben, nach einem uns selbst gegebenen rein vernünftigen Gesetz zu handeln. Und schließlich ist dieses Vernunftgesetz bestimmt genug, um einen moralischen Historismus oder Relativismus zu vermeiden, andererseits jedoch offen genug, um auf völlig verschiedene empirische Situationen angewendet zu werden. Im Übrigen sind die meisten Maximen nicht geboten oder verboten, sondern bloß erlaubt, das heißt es steht einem in moralischer Hinsicht frei, ob man sie annehmen möchte oder nicht. Das gibt unter anderem viel Spielraum bei der Verfolgung dessen, was wir für unser eigenes Glück halten.

Was haben andere Philosoph*innen an Kants Ethik kritisiert?

Kant wurde immer wieder für das kritisiert, was man als Formalismus bezeichnet hat. Das ja tatsächlich höchst formale Vernunftgesetz sei problematisch, so meinte man, weil es erstens zu abstrakt sei, um uns zu orientieren, und zweitens sogar zu absurden und kontraintuitiven Ergebnissen führen könne. Die berühmte Schrift „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“, in der Kant ein absurd rigoroses Lügenverbot zu vertreten scheint, diente nicht selten als Beleg für diese zweite Kritik. Die Debatte um diese Schrift ist zu komplex, um sie hier zu resümieren. Erwähnt sei aber doch, dass viel davon abhängt zu verstehen, was Kant genau unter Lüge versteht, ob es sich um einen Kontext der Ethik oder des Rechts handelt sowie welche Alternativen zur Lüge unstrittig erlaubt sind, wie etwa zu schweigen oder sich durch ein geistreiches Wort aus der Affäre zu ziehen.

Einer Ihrer Forschungsschwerpunkte ist die Phänomenologie, eine Bewegung, die Anschauung und Erfahrung als zentral für das Philosophieren betrachtet. Wie standen und stehen Phänomenolog*innen zu Kants Ethik?

Den soeben erwähnten Formalismus-Vorwurf haben auch zahlreiche, vor allem frühe Phänomenolog*innen erhoben, allen voran Max Scheler. Als Alternative zu Kants formalem Prinzip haben sie eine sogenannte materiale Wertethik vorgeschlagen, also eine Ethik, die konkrete Werte zu begründen sucht. Diese Werte sollen einerseits in einer der Wahrnehmung analogen „Wertnehmung“ zugänglich werden, andererseits aber objektiv gelten. Hier liegt aus meiner Sicht ein Problem, das die Wertethik nicht lösen kann: denn wie kann ich sicher sein, dass ich es bei dem in der Wertnehmung tatsächlich erfahrenen Wert mit einem objektiv gültigen Wert zu tun habe? Am deutlichsten hat dieses Problem wohl der Freiburger Phänomenologe Edmund Husserl erkannt. Husserl hat zeitlebens nach einer phänomenologisch begründeten, auch materialen Wertethik gesucht, aber scheute letztlich davor zurück, einen konkreten Wertekatalog vorzuschlagen. Er sah, dass sich ein vermeintlicher Wert in seiner wahrhaft objektiven Geltung in der gesamten Geschichte der Menschheit als Wert bestätigen müsste. Da wir jedoch immer mittendrin stehen, können wir eine solche Ausweisung nie erreichen. Als Teil dieser Menschheitsgeschichte können wir letztlich nie wissen, ob etwas vielleicht nur in unserer Epoche oder unserer Region richtig scheint.

Die phänomenologische Wertethik ist also aus Ihrer Sicht eine Sackgasse. Gibt es auch eine phänomenologische Rezeption von Kants Ethik, die Ihnen philosophisch fruchtbar zu sein scheint?

An einer Stelle seiner Kritik der praktischen Vernunft behauptet Kant, das Moralgesetz sei ein „Faktum der Vernunft“. Er meint damit, grob gesagt, dass es in jedem Menschen eine reine praktische Vernunft wirklich gibt, die ihn dazu aufruft, dem kategorischen Imperativ Folge zu leisten. Was aber bedeutet genau diese Faktizität? Ist es wirklich die einer reinen praktischen Vernunft mit einem universalen Gesetz? Phänomenologen wie Heidegger, Sartre und Levinas haben hier angesetzt und nach etwas gesucht, was ich eine phänomenologische Vertiefung des kantischen Formalismus nenne. Hierbei geht es darum, der Verschiedenheit der Menschen in einem grundlegenderen Sinne Rechnung zu tragen.

Welche Teile von Kants Ethik sind vielleicht mittlerweile überholt?

Es gibt eine ganze Reihe von problematischen Aussagen Kants über Menschen aus nicht-europäischen Ländern und über Frauen. In manchen Punkten war er in dieser Hinsicht Kind seiner Zeit, in anderen gab es Zeitgenossen, die aus unserer heutigen Perspektive gesprochen fortschrittlicher dachten als er. Die problematischen Stellen zu benennen und ihre historischen Hintergründe zu erforschen ist eine wichtige Aufgabe, der sich die heutige Forschung stellt. Mindestens ebenso wichtig ist es jedoch zu beachten, dass eine Ablehnung von einigen empirischen Aussagen Kants noch keine Ablehnung seiner kritischen Grundlegung der Moralphilosophie nötig macht. Natürlich können wir auch diese Grundlegung ablehnen oder umarbeiten, letzteres ist ja nicht nur in der Phänomenologie, sondern auch etwa in der Tradition von John Rawls und Christine Korsgaard oder aber von Jürgen Habermas geschehen. Wichtig ist nur, die Ebene einer problematischen empirischen Anwendung der Grundlegung, etwa im Zusammenhang von Kants Aussagen über „Südseeinsulaner“ oder „das schöne Geschlecht“, von der Problematisierung der Grundlegung selbst zu unterscheiden.

Welche von Kants Gedanken bleiben auch nach 300 Jahren noch wichtig?

Es besteht auch heute noch die Gefahr, dass eine Gruppe von Menschen, wie beispielsweise die Europäer*innen, ihre lokalen Gesetze für universell erklärt. Die Frage, mit der Kant uns konfrontiert, ist: Gibt es einen Universalismus, der dieser Gefahr entgeht? Wenn ja, wie sieht er aus? Gründet er sich auf irgendeine Idee von Vernunft, wie Kant es behauptet? Damit verknüpft ist letztlich auch die Frage, ob es überhaupt eine Dimension einer ethisch-rechtlichen Vernunft gibt, die sich von bloßen Machtkämpfen einzelner Gruppen unterscheidet. Mit dieser Frage steht Wesentliches auf dem Spiel, nicht nur für die zeitgenössische Philosophie, sondern für die öffentliche Debatte überhaupt sowie für unser endliches und oft so verwirrend unübersichtliches Leben auf dieser Welt.

 

Inga Römer ist seit 2023 Professorin für Philosophie mit dem Schwerpunkt Hermeneutik und Phänomenologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Dort leitet sie außerdem das Husserl-Archiv und das Bernhard Waldenfels-Archiv. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die Metaphysik, Ethik, Subjektivität und Intersubjektivität, Zeit, Hermeneutik, Phänomenologie, klassische deutsche Philosophie mit einem Schwerpunkt in der Philosophie Immanuel Kants.

 

Mehr Informationen zu Inga Römer

Zur Website des Husserl-Archivs

Im Rahmen des Studiums generale hält Inga Römer am Mittwoch, 24.04.2024 den Vortrag "Kant und welches Problem der Metaphysik?".

Kontakt:

Hochschul- und Wissenschaftskommunikation
Universität Freiburg
Tel.: 0761/203-4302
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