Der feine Unterschied zwischen Chefarzt und Schätzchen
Freiburg, 11.09.2012
Selbst wenn Menschen dasselbe ausdrücken möchten, tun sie dies in zahllosen Varianten: Mit nahen Freunden, der Partnerin oder dem Partner reden sie anders als mit einem Arzt. Solche Unterschiede in der Sprache sind allerdings oft subtil und nicht einfach zu bestimmen. In einer Sonderausgabe der Zeitschrift „Frontiers in Human Neuroscience“ berichten Johanna Derix, Dr. Tonio Ball und Kolleginnen und Kollegen vom Bernstein Center und dem Universitätsklinikum Freiburg, dass sie anhand von Gehirnsignalen feststellen konnten, mit wem sich eine Person unterhielt. Die Entdeckung könnte dazu beitragen, Sprachgeneratoren für schwer gelähmte Menschen weiterzuentwickeln.
Im Unterschied zu Experimenten, wie sie in der Neuroforschung üblich sind, untersuchten die Wissenschaftler natürliches Verhalten außerhalb einer Versuchsanordnung. Patientinnen und Patienten, denen aus medizinischen Gründen Elektroden in den Schädel eingesetzt worden waren, hatten zugestimmt, dass ihre Gehirnaktivität während des Alltags im Krankenhaus aufgezeichnet wurde. Das Forscherteam verglich die Daten, die während Gesprächen mit dem behandelnden Arzt oder dem Partner gewonnen wurden, miteinander. Sie fanden eindeutige Unterschiede im Bereich des vorderen Schläfenlappens, einer Hirnregion, die für das Sozialverhalten bedeutend ist. Mehrere Komponenten der elektrischen Signale, die an der Hirnoberfläche messbar sind, können diese Informationen enthalten.
„Die Studie ist nur der erste Schritt, um die neurobiologische Grundlage von menschlichem Verhalten im Alltag zu entschlüsseln“, erklärt der Neurowissenschaftler und Arzt Tonio Ball. „Solche Studien werden dann besonders wichtig, wenn neue neurotechnologische Behandlungsformen bei Menschen mit eingeschränkter Muskel- und Sprachfunktion im Alltagsleben funktionieren sollen.“ Die Wiederherstellung des Sprachvermögens ist für Patienten mit bestimmten neurologischen Erkrankungen und chronischen Lähmungen bedeutsam. Bei ihnen könnte ein Computer mittels der Hirnsignale Sprache erzeugen. Information darüber, mit wem der Patient spricht, könnte den Systemen helfen, den richtigen Ton zu treffen – damit der Chefarzt nicht mit „Schätzchen“ angesprochen wird.
Bildunterschrift:
Beispiel von Hirnsignalen, gemessen an einer Elektrode (grauer Punkt) in einer Region, die für das Sozialverhalten mitverantwortlich ist: Eindeutige Aktivierungsunterschiede sind zu sehen, wenn die Versuchsperson mit dem Lebenspartner (grüne Kurve) oder mit dem behandelnden Arzt (blaue Kurve) spricht (Bild: BCF/Universität Freiburg).
Originalveröffentlichung:
Derix, J., Iljina, O., Schulze-Bonhage, A., Aertsen, A., Ball, T. (2012): “Doctor” or “darling”? Decoding the communication partner from ECoG of the anterior temporal lobe during non-experimental, real-life social interaction. Frontiers in Human Neuroscience 6, 251.
http://www.frontiersin.org/Human_Neuroscience/10.3389/fnhum.2012.00251/abstract
Kontakt:
Dr. Tonio Ball
Bernstein Center Freiburg
Albert-Ludwigs-Universität
Tel.: 0761/270-9316
E-Mail: tonio.ball@uniklinik-freiburg.de
www.ieeg.uni-freiburg.de
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