Artikelaktionen

Sie sind hier: Startseite Online-Magazin forschen & entdecken Hindernisse beim Heilen

Hindernisse beim Heilen

So genannte lebende Medikamente überzeugen bei der Behandlung von Patienten mit HIV oder Krebs – doch europäische Vorschriften machen es den Forschenden nicht einfach

Freiburg, 19.12.2019

Abgehängt in der Entwicklung neuartiger Medikamente? Die League of European Research Universities (LERU), ein europäisches Netzwerk forschungsstarker Universitäten, beklagt viele Schwierigkeiten bei der Erforschung und dem Einsatz von Advanced Therapy Medicinal Products. Mit diesen ATMPs, neuartigen Medikamenten, arbeitet Prof. Dr. Toni Cathomen an der Universitätsklinik Freiburg. Der Direktor des Instituts für Transfusionsmedizin und Gentherapie befürchtet, dass deutsche Universitäten und Universitätskliniken bei ATMPs abgehängt werden. Im Interview mit Jürgen Schickinger erklärt Cathomen, was es mit ATMPs und der LERU-Initiative auf sich hat.


Toni Cathomen sieht in Universitätskliniken den idealen Rahmen zur Entwicklung und Anwendung der neuartigen Medikamente. Foto: Monkey Business/stock.adobe.com

Herr Cathomen, was genau sind ATMPs?

Toni Cathomen: Es handelt sich um eine Gruppe von neuen Medikamenten für „neuartige“ oder „fortgeschrittene“ Therapien, wie der englische Name angibt. ATMPs sind „lebende Medikamente“, oft Zellen einer Patientin oder eines Patienten. Forschende modifizieren diese Zellen stark für die medizinische Anwendung. In der Klinik verwenden Ärztinnen und Ärzte die Mittel als Gentherapeutika, somatische Zelltherapeutika und biotechnologisch bearbeitete Gewebeprodukte.

Können Sie konkrete Beispiele nennen?

Zur Therapie bestimmter Blutkrebsarten liegen CAR T-Zellen im Trend. Das sind Immunzellen mit chimären Antigenrezeptoren, abgekürzt CAR. Sie sind aus Rezeptorteilen verschiedenen Ursprungs zusammengesetzt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler entnehmen Krebspatienten die T-Zellen und versetzen sie mit CARs, sodass diese Immunzellen mithilfe der CARs die Tumorzellen als „fremd“ erkennen. Daraufhin leitet das Immunsystem der Patienten eine Abwehrreaktion ein, um den Tumor zu bekämpfen. Ähnlich lassen sich von Blutstammzellen, aus denen die Immunzellen hervorgehen, Rezeptoren entfernen – beispielsweise der Rezeptor, über den das Humane Immundefizienz-Virus (HIV) Immunzellen infiziert. Ohne diesen Rezeptor ist das Immunsystem gegen HIV resistent. Ein drittes Beispiel sind Ersatzgewebe aus patienteneigenen Zellen, etwa neue Hornhäute für Menschen, die sich die Augen verätzt haben.

Solche Therapien finden schon an Patienten statt?

Ja, viele – auch hier am Universitätsklinikum Freiburg. Insgesamt sind schon knapp 20 ATMPs in Europa zugelassen. In unserem Krebszentrum werden beispielsweise CAR T-Zellen eingesetzt. Meine Abteilung entwickelt CAR T-Zellen, die solide Tumore wie das Prostatakarzinom bekämpfen. Wir arbeiten auch an Stammzelltherapien für Kinder, die an angeborenen Immundefekten leiden, und bereiten eine klinische Studie mit HIV-Patienten vor. Die wollen wir heilen, indem wir ihr Immunsystem durch eines austauschen, dessen Zellen der schon genannte Eintritts-Rezeptor für HIV fehlt.

Wie fällt Ihre Bilanz zur Wirksamkeit aus?

Auf jeden Fall positiv. Die Tumorpatienten, die CAR T-Zellen erhalten haben, waren austherapiert, das heißt, dass alle herkömmlichen Behandlungsoptionen ausgeschöpft waren. Sie hatten voraussichtlich noch zwei bis drei Monate zu leben. Mehr als 50 Prozent haben durch die Therapie mit CAR T-Zellen bis heute überlebt und sind überwiegend tumorfrei. Das ist beachtlich – ATMPs sind eine Erfolgsgeschichte.

Trotzdem gibt es laut LERU viele Hindernisse in der Entwicklung.

Ja, eines der größten haben wir bei der Infrastruktur: Um ATMPs herstellen zu können, brauchen wir Reinräume – ähnlich wie die zur Produktion von Mikrochips. Die existieren teilweise noch nicht. Hier am Universitätsklinikum gibt es Pläne für ein Reinraumzentrum, das drei Abteilungen nutzen werden: die Klinikapotheke, die Nuklearmedizin und wir, die ATMPs entwickeln. Wir brauchen zudem nationale oder überregionale Zentren, um die ATMP-Forschung besser zu bündeln, wie es im Rahmen der LERU-Initiative geplant ist.


„ATMPs sind eine Erfolgsgeschichte“, findet Toni Cathomen – die Medikamente kommen etwa bei der Behandlung von Krebs, HIV und bei vielen Erb- und Infektionskrankheiten zum Einsatz. Foto: Harald Neumann

LERU kritisiert auch politische Hindernisse – welche?

Erforschung, Herstellung und klinische Studien mit ATMPs sind in Europa stark reglementiert. Da ist gut wegen der Patientensicherheit, doch speziell in Deutschland sind die regulatorischen Hürden so hoch, dass ATMP-Forschende aus anderen Ländern einen Bogen um unser Land machen. Zudem erschwert das föderale System unsere Arbeit. Bundesweit ist das Paul-Ehrlich-Institut für Bewilligungen klinischer Studien mit ATMPs zuständig, für ihre Herstellung aber die Bundesländer. Jedes hat eigene Regeln und Zuständigkeiten, die sich oft auf mehrere Regierungspräsidien verteilen: Für eine klinische Studie müssen wir uns mit sehr vielen Behörden auseinandersetzen. Da fallen meterweise Ordner Schriftverkehr an.

Läuft es woanders einfacher?

England macht das sehr gut. Es hat viel Geld in zentrale nationale Einrichtungen gesteckt, die akademischen Institutionen und biotechnologischen Unternehmen helfen, ATMPs zum Patienten zu bringen. Außerdem sind die regulatorischen Hürden in England nicht so hoch. Sicherheit steht dennoch im Vordergrund. Frankreich und Italien andererseits bündeln ihre ATMP-Forschung in wenigen Zentren. Um in Deutschland wieder kompetitiv zu werden, müssen regulatorische Hürden drastisch abgebaut und vereinfacht werden. Der Aufwand für akademische Studien mit ATMPs ist in unserem Land unverhältnismäßig hoch.

Warum beklagt LERU auch schlechte Karrierechancen?

Wissenschaftler, die mit ATMPs arbeiten, brauchen wegen der langen Entwicklungszeit oft mehrere Jahre, um etwas publizieren zu können. Wer in der akademischen Laufbahn so lange nichts veröffentlicht, hat verloren. Da brauchen wir andere Lösungen und andere Beschäftigungsmodelle: Nach zwölf Jahren erlaubt das Hochschulrahmengesetz keine weitere Anstellung. Das ist unrealistisch. Wir benötigen gut ausgebildetes Stammpersonal in der ATMP-Entwicklung und entsprechende Stellen im akademischen Mittelbau. Hier erhoffen wir uns mehr Unterstützung vom Land. Es reicht nicht, nur die Gebäude hinzustellen.

Können die Kliniken selbst etwas verbessern?

Ja, wir sollten ATMPs stärker in die klinische Weiterbildung integrieren. Ärzte müssen lernen, welche ATMPs es gibt, was sie leisten und was neue ATMPs möglicherweise leisten könnten. So lassen sich gemeinsame Projekte entwickeln. Denn gerade Universitätskliniken sind für die ATMP-Entwicklung prädestiniert: Sie vereinigen unter einem Dach klinisches, technisches und regulatorisches Know-how. Und dort sind auch die Patienten. Allerdings sind klinische Studien sehr teuer. Die öffentliche Hand kann zur Deckung der Kosten beitragen, sie aber kaum allein übernehmen. Hier müssen wir selbst Kompromisse finden, Kooperationen mit der Industrie eingehen und Anteile am wirtschaftlichen Ertrag unserer Entwicklungen abtreten.

Also sehen Sie noch weiteres Potenzial in ATMPs?

Gerade in der regenerativen Medizin, die geschädigte Zellen, Gewebe oder Organe nach Unfällen, Erkrankungen und Abnutzung therapieren will, gibt es unendlich viele Möglichkeiten. Bei uns an der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie entnehmen Kolleginnen und Kollegen ihren Patienten zum Beispiel Knorpelzellen, vermehren diese und spritzen sie den Patienten ins Knie, um dort Schäden zu beheben. Auch bei vielen Erbkrankheiten oder Infektionskrankheiten wie Hepatitis B werden ATMPs in Zukunft vielen Patienten helfen.

LERU-Initiative zu ATMPs

Die League of European Research Universities (LERU) sieht große Hindernisse dabei, Advanced Therapy Medicinal Products (ATMPs) zu den Patienten zu bringen. Das Netzwerk der europäischen forschungsstarken Universitäten hat dazu ein Positionspapier veröffentlicht. Darin fordert es unter anderem, die Zusammenarbeit aller Beteiligten von den Universitäten über die Behörden bis hin zur Industrie zu verbessern. Behörden sollen bestimmte Vorschriften abbauen oder ändern, um die Transparenz in der ATMPs-Entwicklung zu erhöhen, damit Forschungsgruppen leichter auf Ergebnissen anderer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aufbauen können. Dadurch soll sich der Fortschritt auf diesem Gebiet beschleunigen. Mit derselben Absicht fordert LERU, die Forschung an ATMPs stärker zu vernetzen und zu bündeln. Nicht zuletzt sollen ATMPs-Forschende an Universitäten über neue Wege größere Karrierechancen erhalten.

Das Positionspapier lesen