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Der überforderte Frieden

Jörn Leonhard betrachtet in seinem neuen Werk die Zeit vom Ende des Ersten Weltkriegs bis 1923

Freiburg, 12.10.2018

Der überforderte Frieden

Quelle: Wikimedia Commons Public Domain

Mit „Die Büchse der Pandora“ hat Prof. Dr. Jörn Leonhard vor vier Jahren ein Standardwerk zum Ersten Weltkrieg vorgelegt. Im Oktober 2018 veröffentlicht der Freiburger Historiker eine Monografie, die an diese Arbeit anknüpft: „Der überforderte Frieden: Versailles und die Welt 1918-1923“. Nicolas Scherger hat ihn zu einigen zentralen Thesen und Erkenntnissen befragt.


Sir William Orpen, akkreditierter Maler der britischen Friedensdelegation in Paris, hat die Unterzeichnung des Friedensvertrags im Spiegelsaal von Versailles auf einem Ölgemälde dargestellt. Quelle: Imperial War Museum London via Wikimedia Commons, Public Domain

Herr Leonhard, wie haben die Menschen vor 100 Jahren das Ende des Ersten Weltkriegs erlebt?

Jörn Leonhard: Das Kriegsende ist ein schwieriger Moment. Im November 1918 können viele Soldaten gar nicht glauben, dass der Krieg zu Ende ist. Als die Waffen tatsächlich schweigen, kommt schnell die Frage auf: Wann genau dürfen wir nach Hause? Aber dann wird klar: Das dauert noch. Die französischen Einheiten werden beispielsweise nicht demobilisiert, unter anderem, weil man noch mit einer Besetzung Deutschlands rechnet. So brechen an manchen Orten Meutereien aus. In Deutschland hat die unerwartete Niederlage viele Menschen erschüttert, weil sich das Gefühl breit gemacht hat, dass die Opfer, die man über vier Jahre erbracht hat, umsonst waren. So entsteht die Vorstellung, im Felde unbesiegt geblieben zu sein, während eine sozialistisch-kommunistische Heimatfront den Dolch in den Rücken der tapfer kämpfenden Soldaten gestoßen habe. Auch bei den Siegermächten gibt es nicht nur Jubelfeiern, sondern auch verbreitete Trauer um die vielen Toten.


Jörn Leonhard widerspricht in seiner neuen Monografie einer klassischen Interpretation, der Erste Weltkrieg habe unweigerlich in den Zweiten geführt: „Auch die Menschen von 1918/19 hatten eine Zukunft, die vielfältig belastet, aber doch prinzipiell offen war und die man gestalten konnte.“ Foto: Thomas Kunz

Der Erste Weltkrieg war unter anderem von einer Industrialisierung des Krieges geprägt. Wurde das damals schon reflektiert?

Ja, und zwar nicht nur innerhalb der Eliten. Die Menschen begreifen vor allem während der beiden letzten Jahre des Krieges, dass er immer mehr industrielle Ressourcen aufsaugt, die an anderen Stellen fehlen. Das gilt besonders bei den Mittelmächten, in deren Gesellschaften sich die Lebensmittelversorgung permanent verschlechtert. In allen Gesellschaften gibt es eine zugespitzte Diskussion um die Frage: Wer drückt sich vor den Lasten, wer profitiert gar vom Krieg? Weil die sozialen Spannungen immer größer werden, muss der Staat zum Beispiel auf die Gewerkschaften zugehen, denn zur Fortführung des Krieges sind die Arbeiter unerlässlich – ob als Soldaten oder in den kriegswichtigen Industrien. Nach Kriegsende bedeutet es eine riesige Herausforderung, die Kriegsproduktion wieder auf eine Friedenswirtschaft mit Konsumgüterproduktion umzustellen. Die Frage der Finanzierung ist ebenfalls wichtig. Der Krieg wurde in Deutschland stark über Geldmengenvermehrung bezahlt, die zur Inflation nach Kriegsende beitrug.

Es gab also riesige Hypotheken, und dazu kommt: Das Ende des Krieges war nicht gleichbedeutend mit dem Ende der Gewalt.

Wir neigen dazu, den 11. November 1918 als das Kriegsende zu bezeichnen. Das gilt aber nur für Westeuropa. Tatsächlich gibt es einen Gestaltwandel des Krieges, der mit Blick auf Osteuropa und Russland schon 1917 beginnt. Im russischen Bürgerkrieg kommen zwischen Ende 1917, also nach der Oktoberrevolution der Bolschewiki, und Ende 1922 auf dem Gebiet des ehemaligen Zarenreiches mehr Menschen ums Leben als im Weltkrieg zuvor. Zwischen 1918 und 1923 gibt es mehr als 40 kleine Kriege, die Winston Churchill, Mitglied des britischen Kabinetts, als „Pygmäenkriege“ bezeichnet hat. Das hat für die Nachkriegsgesellschaften in den Gebieten des untergegangenen Zarenreichs, der ehemaligen Habsburgermonarchie und des Mittleren und Nahen Ostens eine riesige Bedeutung.


Friedhof und Beinhaus von Douaumont, nahe Verdun/Frankreich: Der Erste Weltkrieg forderte Millionen von Todesopfern. Entsprechend hoch waren die Erwartungen der Menschen nach dem Kriegsende, dass die Dividende des Friedens diese Verluste rechtfertigen würde. Foto: Jean-Pol Grandmont/Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0

Zu Kriegsbeginn 1914 herrschten in vielen Staaten eine nationale Begeisterung und der Glaube an einen schnellen Sieg vor. Nach über vier Jahren mit Millionen Todesopfern weckte der Friedensschluss erneut große, letztlich nicht erfüllbare Hoffnungen. Haben die Menschen ein Jahrzehnt der enttäuschten Erwartungen erlebt?

Das ist ein elementarer Aspekt, und deshalb habe ich mein Buch „Der überforderte Frieden“ genannt. Der totalisierte Krieg ging mit der Erwartung einher, dass die Dividende des Friedens alle Opfer rechtfertigen würde. Das hat in fast allen Gesellschaften zu extremer Kompromisslosigkeit geführt. In den meisten Nachkriegsgesellschaften wird zudem am Ende des Ersten Weltkriegs das allgemeine Wahlrecht eingeführt. Die Politiker, die in Paris verhandeln, müssen sich also zu Hause Wahlen stellen, in deren Wahlkampagnen hohe Erwartungen artikuliert werden. Hinzu kommen viele Hypotheken. Um neue Bündnispartner zu gewinnen, versprach man diesen im Fall eines Sieges Territorien und Einfluss – so etwa gegenüber Italien, Rumänien oder Griechenland, aber auch gegenüber den Arabern. So waren die Friedensmacher in Paris insgesamt mit einer Fülle von Hoffnungen, Projektionen, Visionen konfrontiert, was der Frieden alles bringen sollte – bis hin zur Erwartung einer globalen Friedensarchitektur, die eine Wiederholung des Infernos von 1914 ein für alle Mal verhindern sollte.

Ein überforderter Frieden, das Wahlrecht ausgeweitet auf eine große Masse von Menschen, deren Erwartungen massiv enttäuscht werden: War damit der Weg in die Radikalisierung vorgezeichnet?

Zu dieser klassischen Interpretation neigen wir zumal in Deutschland. Mein Buch setzt einen anderen Akzent: Aus dem Moment von 1918/19 kann man nicht ableiten, dass der Weg in den italienischen Faschismus, das NS-Regime in Deutschland oder den Zweiten Weltkrieg schon gepflastert ist. Viele Soldaten schreiben in ihren Feldpostbriefen am Ende des Krieges, dass es nach diesem Krieg keinen weiteren mehr geben kann. Diese Hoffnung der Zeitgenossen von 1918 darf man den Menschen nicht dadurch nehmen, dass man die Geschichte nur vom Ende her denkt. Der Begriff, dem man dieser deterministischen Geschichtsauffassung entgegenhalten muss, ist die vergangene Zukunft. Auch die Menschen von 1918/19 hatten eine Zukunft, die vielfältig belastet, aber doch prinzipiell offen war und die man gestalten konnte. Vielen Diplomaten in Paris ist klar, dass der Friedensschluss alles andere als perfekt ist. Aber er hat auch eine Stabilisierung erreicht und neue Instrumente hervorgebracht, etwa den Völkerbund, der sich nicht nur mit dem Thema Frieden befasst, sondern beispielsweise auch mit sozialen Mindeststandards und der Zukunft ehemaliger Kolonien. Damit sollte, so die Hoffnung der Menschen 1918/19, der Friedensschluss der Auftakt zu einem langen Friedensprozess werden.


Der Gebäudekomplex des Palais des Nations in Genf/Schweiz war der Hauptsitz des Völkerbunds, der sich als neues Instrument der internationalen Politik mit Themen wie kollektiver Sicherheit, Konfliktschlichtung, internationalen Standards sozialer Sicherung und der Zukunft ehemaliger Kolonien befasste. Foto: andi475/Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0

War der Erste Weltkrieg nicht auch ein Katalysator für die Modernisierung?

Diesen Zusammenhang gibt es durchaus, aber man muss genau hinsehen. Das 1918 vielerorts eingeführte allgemeine Wahlrecht etwa ist nicht das Ergebnis eines Prozesses hin zu Bürger- und Menschenrechten, sondern eine Konsequenz der millionenfachen Kriegsopfer: Kriegsdienst und politische Teilhabe werden durch die Erfahrung des Weltkrieges neu aufeinander bezogen. Progressive Elemente stellen auch die neuen Ideen über Multilateralismus und kollektive Sicherheit dar. Das Mandatssystem als erster Schritt, um koloniale Regimes zu internationalisieren. Dazu kommt das Bewusstsein, dass einzelne Staaten allein keine Lösungen für die Millionen von Flüchtlingen nach dem Ersten Weltkrieg finden können; Fritjof Nansen wird vor diesem Hintergrund für den Völkerbund den nach ihm benannten Pass für Staatenlose entwickeln. Die deutschen Gewerkschaften werden 1918 von den Arbeitgebern offiziell anerkannt – man kommt den Arbeitern entgegen, um eine Sozialisierung von Schlüsselindustrien zu verhindern. Der Sozial- und Wohlfahrtsstaat erhält wichtige Impulse, weil die Staaten für die Versorgung der Veteranen, Witwen, Waisen und Invaliden sorgen müssen. Die Lösungen, die gefunden werden, sind nicht perfekt, aber es sind doch richtungweisende Ansätze.

Sie forschen schon seit Langem über diesen Zeitraum. Welche Erkenntnis hat Sie am meisten beeindruckt?

Beeindruckt und zugleich erschreckt hat mich, wie alle Planungen und Szenarien, die man vor 1914 detailgenau entwirft, innerhalb kürzester Zeit durch die Dynamik der Gewalt nach außen und innen, an der militärischen wie an der Heimatfront entwertet werden. Prägend für das 19. Jahrhundert war das Ringen um Parlamente, Verfassungen und geregelte politische Teilhabe im Rahmen gesicherter Rechte. Der Erste Weltkrieg zeigt, wie die meisten dieser Errungenschaften innerhalb kürzester Zeit zurückgedrängt werden und sich aus neuen politischen und sozialen Spannungen revolutionäre Situationen entwickeln. Das gilt nicht nur für Russland 1917. Überkommene Bürgerrechte wurden auch in Deutschland, Frankreich, Italien oder Großbritannien suspendiert. Man bekommt ein Gefühl dafür, wie dünn die Firniss ist. Ebenso lässt sich bis 1923 exemplarisch verfolgen, was die Ethnisierung der Politik bedeutet, die Zuspitzung von Zugehörigkeitskriterien, die Zunahme ethnischer Gewalt In der „Büchse der Pandora“ habe ich etwas polemisch geschrieben, dass der Sieger des Krieges der Krieg selbst war. Das ist zugleich die größte Enttäuschung: dass die Möglichkeit des  Krieges nach außen und innen, als Staaten- und als Bürgerkrieg, gerade nicht ausgeschlossen wird, sondern ein Mittel bleibt, um Machtansprüche durchzusetzen oder die Friedensschlüsse von 1919/20 gewaltsam zu revidieren.

 


Zum Weiterlesen


Leonhard, Jörn: Der überforderte Frieden: Versailles und die Welt 1918-1923. München 2018.

Leonhard, Jörn: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs. 5. Auflage München 2014; Taschenbuchausgabe 2018.





Quelle: C. H. Beck