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Das Stimmenkonzert retten

Katharina Brizić erläutert, welche Lehren die Gesellschaft aus dem Friedensnobelpreis für Nadia Murad ziehen kann

Freiburg, 02.01.2019

2018 ging der Friedensnobelpreis an die Jesidin Nadia Murad, die als Teil des „Sonderkontingents für besonders schutzbedürftige Frauen und Kinder aus dem Nordirak“ nach Deutschland gekommen ist. 1.100 Frauen und Kindern hat die baden-württembergische Landesregierung damit ermöglicht, dem Krieg und brutaler sexueller Gewalt im Nordirak zu entkommen. Dieses Aufnahmeprogramm steht im Zentrum der Arbeit von Katharina Brizić, Professorin für Mehrsprachigkeitsforschung an der Universität Freiburg. Im Gespräch mit Jürgen Reuß erklärt sie, wie und warum sie sich mit diesem Thema beschäftigt.


Foto: beeboys/Fotolia

Frau Brizić, Sie erhielten 2018 eine Förderung der Stiftung Mercator im Bereich Integration. Wie kamen Sie darauf, sich mit den Jesidinnen und dem baden-württembergischen Sonderprogramm zu beschäftigen?

Katharina Brizić: Im Zentrum meines Interesses steht ganz grundsätzlich der soziale Zusammenhalt einer Gesellschaft – und die Gewalt, die freigesetzt wird, wenn dieser Zusammenhalt zerbricht. Gerade Minderheiten wie die Jesiden sind in solchen Prozessen am verwundbarsten. Die Jesiden sind aufgrund ihrer Religion seit jeher verfolgt und stellen auch sprachlich – sie sprechen Kurdisch – eine Minderheit ohne staatlichen Schutz dar. Die Verfolgung der Jesiden durch den „Islamischen Staat“ ist sicher eine der bisher schwersten Bedrohungen gegenüber einer Minderheit im Nahen Osten. Und doch wurden in all der Zerstörung auch ganz andere Prozesse in Gang gesetzt: Das Sonderprogramm ist eine herausragende Initiative. Sie will bedrohten Frauen und Kindern aus dem Nordirak Sicherheit und ein neues Zuhause in Deutschland bieten. Hinzu kommt die Stärke, mit der jesidische Frauen die Bedrohung, Entführung und Verfolgung überlebten und ihre Stimme für Gerechtigkeit erhoben. Das bekannteste Beispiel ist Nadia Murad, die sich nicht etwa für Rache stark macht, sondern dafür, dass die Täter vor ein ordentliches Gericht kommen. Ihr Eintreten für Gerechtigkeit ist die wichtigste Basis dafür, dass in der zerrissenen, teils traumatisierten Gesellschaft im Irak wieder Zusammenhalt entstehen kann.

Sie haben als Linguistin eine Professur für Mehrsprachigkeitsforschung inne. Wo liegt der Zusammenhang zwischen der Mehrsprachigkeit und Ihrem Interesse für sozialen Zusammenhalt?

Unsere Gesellschaft ist besonders in sozialer Hinsicht enorm divers. Gerade erleben wir wieder, dass soziale Spaltungen quer durch die Gesellschaft verlaufen. In der Forschung bezeichnet man das schlicht als „Vielstimmigkeit“: Von den vielen verschiedenen, sozial oder religiös, beruflich oder historisch definierten Bevölkerungsgruppen Deutschlands erhebt ja jede einzelne ihre je eigene „Stimme“ und leistet damit ihren Beitrag zum großen gesamtgesellschaftlichen „Stimmenkonzert“ oder zur Vielfalt der Diskurse, wie wir linguistisch sagen würden.

Wie spielt die Mehrsprachigkeit da rein?

Sie ist einer der vielen Aspekte dieses Stimmenkonzerts. Soll heißen: Sozial, religiös, beruflich oder historisch unterschiedliche Erfahrungen schlagen sich auch in sprachlicher Vielfalt nieder – seien das Berufs- oder Fachsprachen, Dialekte oder Soziolekte und ebenso auch die vielen Narrative kollektiver Erfahrung. Mein Anliegen ist es, dieses mehrsprachige Stimmengewirr aufmerksam zu verfolgen: Wo entstehen Brüche und Spaltungen, und wo kann man Getrenntes rechtzeitig wieder in Kontakt bringen? Wie verhindert man, dass die Teile einer Gesellschaft einander aus den Augen verlieren? Was ist – gerade auch sprachlich und diskursiv – notwendig, um Gemeinsamkeit und den so lebenswichtigen Zusammenhalt zu ermöglichen?


„Sozial, religiös, beruflich oder historisch unterschiedliche Erfahrungen schlagen sich auch in sprachlicher Diversität nieder“, sagt Katharina Brizić.Foto: Peter Gwiazda

Eltern haben häufig große Befürchtungen, wenn ihre Kinder in mehrsprachigen Schulklassen sitzen. Was befürchten sie?

Viele haben Angst, dass deutschsprachige Kinder sich bei den Nicht-Muttersprachlerinnen und -Muttersprachlern sozusagen anstecken könnten und dann selber Fehler im Deutschen machen. Tatsächlich läuft es im Spracherwerb der Kinder aber umgekehrt: Sie zeigen ein ziemlich starkes Normbewusstsein und orientieren sich folglich stark an den Muttersprachlern. Übrigens haben die Eltern nichtdeutschsprachiger Kinder genau die gleichen Sorgen. So gut wie alle stehen heute, so wie unsere Gesellschaft gestrickt ist, unter einem wahnsinnigen Erfolgsdruck, damit ihre Kinder in der Bildung und später am Arbeitsmarkt bestehen können. Ganz ähnlich geht es Lehrkräften. Dem sozialen Zusammenhalt hilft indes der hohe Druck nicht. Vielmehr nährt er Ängste, Vorbehalte und Vorurteile. Dies führt uns zur jesidischen Bevölkerung des Nordirak zurück: Die so folgenschwere Verfolgung von 2014 hat sich gerade auch aus jahrhundertealten Vorurteilen gegen diese Minderheit genährt.

Was geschieht innerhalb einer derart verfolgten Community?

Im Fall der jesidischen Community können wir einen beeindruckenden Prozess beobachten. Es ist unglaublich, wie rasant dort alte Regeln der Diskriminierung von Frauen abgelegt wurden. Das religiöse Oberhaupt hat jede Verurteilung der Vergewaltigungsopfer widerrufen und explizit erklärt, dass Frauen, die so etwas erlebt haben, nicht mehr aus der Gemeinschaft ausgestoßen werden dürfen. Der Zusammenhalt der Gemeinschaft habe gerade ihnen gegenüber zu gelten. Genau das ist die Atmosphäre, in der eine Nadia Murad zur Friedensnobelpreisträgerin wurde. Nur um sich die Tragweite dieses Beschlusses einmal im Vergleich klar zu machen: Ich warte bis heute darauf, dass die katholische Kirche Geschiedene nicht mehr ausgrenzt.

Im Sonderprogramm für die Jesidinnen wurden neue Wege bei der Aufnahme in Deutschland beschritten. Wie bewerten Sie das vor dem Hintergrund Ihrer bisherigen Erkenntnisse?

Besonders hervorzuheben ist das psychosoziale Versorgungskonzept, das Prof. Dr. Jürgen Bengel und Dr. Jennifer Hillebrecht in Freiburg entwickelt haben. Es wäre verheerend gewesen, die Frauen gleich nach ihrer Ankunft einfach in einen normalen Integrationskurs zu setzen. Auch Betreuende und Lehrende müssen oft erst lernen, was der Umgang mit schwer traumatisierten Menschen bedeutet. An dem Punkt gibt das Sonderprogramm gute Hinweise, in welche Richtung überhaupt im Umgang mit Flucht und Migration gedacht werden kann. In der Regel wälzt man noch viel zu Vieles unvorbereitet und unhonoriert auf die Sozialarbeit und auf die Schulen ab.

Wie lässt sich das ändern?

Wir brauchen eine Aufwertung sämtlicher Sozialberufe sowie des Lehrberufs. Und das hat nicht nur mit Schulung und Entlohnung zu tun, sondern auch mit dem Prestige, das unsere Gesellschaft solchen Berufen zuerkennt.

Sehen Sie da auch die Universitäten und den Wissenschaftsbetrieb in der Pflicht?

Selbstverständlich. Ich lehne es ab, dass sozialwissenschaftliche Projekte allzu oft mit zu wenig Geld auskommen müssen. Geistes- und Sozialwissenschaften werden dringend gebraucht. Es ist an der Zeit, einen Nobelpreis für Sozialwissenschaften zu etablieren. Nadia Murad animiert dazu, das Soziale nicht mehr nur im Friedensnobelpreis unterzubringen. Es geht um den Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält. Wir müssen an diesem Punkt neu denken und Neues wagen.